"Forscher muss man nicht dazu ermutigen, miteinander zu reden"

01.10.2012 von Carsten Heckmann in Im Fokus
Interdisziplinarität ist Schwerpunktthema im neuen Unimagazin "scientia halensis". Dabei ist das "i-Tüpfelchen" der Wissenschaft nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal, meint Ethnologieprofessor Richard Rottenburg. Der Sprecher des Forschungsschwerpunktes „Gesellschaft und Kultur in Bewegung“ äußert sich kritisch im zweiten Interview zum Titelthema:

Herr Professor Rottenburg, was ist für Sie Interdisziplinarität?

Es gibt eine recht nahe am Common Sense liegende Definition: Man hat sich einen Untersuchungsgegenstand zurechtgelegt und betrachtet ihn aus verschiedenen Perspektiven. Nehmen wir eine Krankheit, die viele Dimensionen hat, sich nicht alle über die medizinischen Aspekte erklären lassen. Es spielen meist eine Menge sozioökonomischer und soziokultureller Faktoren eine Rolle. Also macht es Sinn, unterschiedliche Perspektiven zu beteiligen. Ein gutes Beispiel ist die Anorexie, eine Form der Essstörung.

Der Präsident der FU Berlin Prof. Dr. Peter-André Alt hat vor einem Verlust an disziplinärer Identität gewarnt, der vor allem dann drohe, wenn Nachwuchswissenschaftler zu früh „in Zwischenbereiche der Wissenschaft“ eintreten. Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass der Begriff Interdisziplinarität zu einem plakativen Werbewort verkommen sei, das zur Antragsrhetorik zwingend dazugehöre. Was sagen Sie dazu?

Richard Rottenburg, Professor für Ethnologie
Richard Rottenburg, Professor für Ethnologie (Foto: privat)

Wenn junge Menschen zu früh mit der Interdisziplinarität als die Lösung aller Dinge konfrontiert werden, bevor sie in einer Disziplin sattelfest geworden sind, ist das in der Tat problematisch. Die Tendenz, das Loblied der Interdisziplinarität sehr laut zu singen und darüber zu vergessen, dass man die Grundlagen eines Faches beherrschen sollte, gibt auch mir zu denken. Dann wird systematisch Inkompetenz produziert. Das ist übrigens auch in der Bologna-Reform erkennbar: Es gibt eine Flut von Masterstudiengängen, die unter der Parole von Praxisrelevanz alle möglichen disziplinären Mischungen darstellen. Da kommen dann Studierende, die nur sechs Semester sozialisiert wurden in diversen Bachelor-Studiengängen, und sollen miteinander reden. Ein ausreichender Erwerb disziplinärer Kompetenz ist vor dem Masterstudiengang nicht mehr gewährleistet. Wir müssen hier in Halle im ersten Master-Semester einen „Advanced Course in Anthropology“ anbieten, in dem wir in einem Schnelldurchgang Grundlegendes wiederholen, denn die Studierenden kommen aus allen möglichen Ecken, mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen.

Was das zweite Thema angeht: Es ist nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal für einen Verbund, dass er interdisziplinär ist. Wenn in Deutschland Forschungsgelder mehrheitlich an Verbundprojekte gehen und es Forderungen gibt, dass diese mehrheitlich interdisziplinär zu sein haben, dann ist irgendetwas nicht mehr in Ordnung. Wissenschaftler muss man eigentlich nicht dazu ermutigen, miteinander zu reden. Das bedarf keiner pädagogischen Handführung.

Der MLU-Germanistikprofessor Daniel Fulda findet es wichtig, dass Forschungsverbünde innerhalb der Universität besser repräsentiert werden, eine Stimme bekommen. Wie sehen Sie das, als Sprecher des Forschungsschwerpunktes „Gesellschaft und Kultur in Bewegung“?

Die Strukturen an der Martin-Luther-Universität passen wirklich nicht zur Arbeit in den vier Forschungsschwerpunkten und den Interdisziplinären Zentren. Auf der einen Seite will beziehungsweise muss sich die MLU ein bestimmtes Profil erarbeiten – aber sie tut viel zu wenig, um es systematisch herbeizuführen. Und an der laufenden Strukturdebatte sind die interdisziplinären Forschungsschwerpunkte und Zentren überhaupt nicht beteiligt. Die Debatte wird wieder konventionell in den Fakultäten geführt und dann immer wieder durch finanzielle Panikattacken in überraschende Richtungen gelenkt.

Sprechen wir über das DFG-Schwerpunktprogramm „Adaption und Kreativität in Afrika“, das seit 2010 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und von ihnen geleitet wird. Darin arbeiten Wissenschaftler aus mehreren Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Mit welcher Zielstellung?

Wir haben einen Untersuchungsgegenstand, der ähnlich wie mein Beispiel der Anorexie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Allerdings wollen wir darüber hinaus eine transdisziplinäre Sprache entwickeln. Beteiligt sind Sozialgeographen, Politikwissenschaftler, Soziologen, Ethnologen. Wir vermissen Historiker, Wirtschaftswissenschaftler, Sprachwissenschaftler und Kulturwissenschaftler. Wenn man sich in der Politikwissenschaft umschaut, entsteht ein anderes Bild der Region Afrika, als wenn man sich in der Ethnologie umschaut. Und dann gibt es die Regionalwissenschaften, die sich gerne in einer sprachwissenschaftlich-historisch orientierten Ecke einrichten. Die einzelnen vertretenen wissenschaftlichen Diskurse beziehen wir aufeinander, indem wir die Teilprojekte immer wieder ins Gespräch miteinander bringen.

Die Beteiligten sprechen unterschiedliche Sprachen, heißt es in der Programm-Beschreibung. Wie ist das zu verstehen?

Wir meinen, dass sich Theorieapparate und Methoden primär im Rahmen von Disziplinen entwickeln. Darüber können Mitglieder dieser Disziplin

hervorragend miteinander reden und sich gegenseitig verstärken. Doch die so gepflegten Ansätze unterscheiden sich eben mehr oder weniger drastisch zwischen den Wissenschaften. Ein Großteil der Afrikaforschung ist im weitesten Sinne ethnologisch und damit geprägt von qualitativen Methoden. Man geht nah heran an seinen Untersuchungsgegenstand, man setzt sich einer Situation aus und lebt in dieser Situation. Die Erkenntnisse, die man so gewinnt, sehen oft anders aus, als wenn man den Gegenstand aus großer Entfernung betrachtet. Ein einfaches Beispiel: Wenn Politikwissenschaftler darüber forschen, wie sich Demokratie in afrikanischen Kontexten entwickelt, dann gehen sie mit einem im Voraus klar umrissenen Demokratiebegriff zu Werke. Dementsprechend werden numerische Daten erhoben und in entsprechende Indikatoren umgerechnet. Wenn man als Ethnologe zur selben Frage forscht, wird man zunächst fragen, was für wen, zu welcher Zeit und aus welchem Grund „Demokratie“ bedeutet – und am Ende eine andere Geschichte erzählen. Da gibt es dann ein Spannungsfeld zwischen dem, was man normativ setzen kann und dem, was man einer situativen Variation überlassen kann. Die Politikwissenschaft ist auf relativ starre Messlatten angewiesen, die Ethnologie dekonstruiert sie. Durch dieses Spannungsfeld kann man sich irritieren lassen, man kann es aber auch thematisieren und reflektieren. Die unterschiedlich ausgerichteten Fachleute miteinander in einen Dialog zu bringen, ist zwar schwierig, aber eben auch fruchtbar und interessant.

Als Ziel haben Sie sich eine gemeinsame analytische Sprache gesetzt. Wie bekommen Sie das hin?

Indem man Leute rekrutiert, die ein Eigeninteresse an diesem Ziel haben. Wir geben das meiste Geld für Doktoranden aus, also für junge Forscherinnen und Forscher. Die verstehen schnell, welches die Parameter des Programms sind und lassen sich darauf ein. In Workshops und Sommerschulen zeigt sich, dass sie gut miteinander klarkommen. Das funktioniert.

Wird es am Ende des sechsjährigen Programms eine Art Wörterbuch geben, das auch für spätere Projekte genutzt werden kann?

In der Tat. Wir haben bereits im Programmantrag ein Vokabular angeboten, das wir jetzt sozusagen testen. Wir streiten darüber, korrigieren, ergänzen, ersetzen. In den Sommerschulen müssen die Referenten auch darstellen, was ihre Arbeit mit diesen Konzepten zu tun hat. Oder wie sie mit den Konzepten ihre empirischen Daten durchleuchten können. Hier kann transdisziplinär etwas Neues entstehen.

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