„Polen ist als Thema selbstverständlicher geworden“

06.09.2023 von Katrin Löwe in Wissenschaft, Forschung, Wissenstransfer
Vor zehn Jahren hat das Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien an den Universitäten Halle und Jena seine Arbeit aufgenommen. Es ist einer der wenigen Orte, an denen sich die Osteuropa-Forschung nicht nur mit Russland, der Sowjetunion und dem postsowjetischen Raum befasst. Direktorin Prof. Dr. Yvonne Kleinmann, Professorin an der MLU, erklärt im Interview, was bisher erreicht wurde und wohin sich das Zentrum entwickeln soll.
Yvonne Kleinmann - hier in der Bibliothek am Steintor-Campus - ist Direktorin des Aleksander-Brückner-Zentrums für Polenstudien.
Yvonne Kleinmann - hier in der Bibliothek am Steintor-Campus - ist Direktorin des Aleksander-Brückner-Zentrums für Polenstudien. (Foto: Maike Glöckner)

Frau Kleinmann, lassen sie uns vorweg einen Blick auf ein sehr aktuelles Thema werfen: den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Inwiefern spielt das auch in Ihrer Arbeit eine Rolle?
Yvonne Kleinmann: Die ukrainische Geschichte war in der Geschichtsschreibung zu Polen wenig sichtbar. Die Invasion Russlands hat dazu geführt, dass wir uns auch in der Erforschung Polens intensiver mit den vorhandenen Verflechtungen beider Länder auseinandersetzen. Zur frühneuzeitlichen Staatenunion Polen-Litauen gehörten zum Beispiel beträchtliche weißrussische und ukrainische Gebiete. Da sie im Namen des Staates nicht vorkamen, war auch das Bewusstsein dafür nicht ausgeprägt. Das setzt sich über die Zeiten fort. Uns wird in den nächsten Jahren beschäftigen, wie wir diese Aspekte Polens sichtbarer machen können, auch wenn wir schon seit unserer ersten Konferenz 2014 ukrainische Themen auf der Agenda hatten. In Jena wurde im letzten Herbst zudem ein „Network for Ukrainian Studies“ gegründet, an dem wir als Aleksander-Brückner-Zentrum beteiligt sind.

Vom 13. bis 15. September feiern Sie das zehnjährige Jubiläum des Aleksander-Brückner-Zentrums. Wie kam es zu dessen Gründung?
Die Osteuropaforschung hat in Deutschland eine mehr als 100-jährige Tradition. In den 1990er Jahren hat sich der Schwerpunkt in Halle mit der Ernennung meines Vorgängers Michael G. Müller auf die polnische Geschichte verlagert. Bundesweit gibt es nur wenige Universitäten und Forschungseinrichtungen, an denen Polen ebenso im Fokus steht, etwa das Mainzer Polonicum, die Viadrina in Frankfurt/Oder oder das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt. Der Gründung des Aleksander-Brückner-Zentrums ist eine Initiative der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit vorausgegangen. Der Gedanke dahinter war, die deutsch-polnischen Beziehungen nicht nur auf die Ebene der Bewahrung von Kulturerbe zu konzentrieren, wie der Restaurierung von Schlössern deutscher Adliger in Niederschlesien, sondern etwas Zukunftsgewandtes zu etablieren. Die MLU hat sich mit der Universität Jena erfolgreich auf die Ausschreibung eines Polenzentrums beworben. 2012 wurde es gegründet, im Herbst 2013 hat es die Arbeit aufgenommen – zwei Jahren lang noch gemeinsam von Professor Müller und mir geleitet.

Zu welchen Themen arbeiten Sie?
Gemeinsam mit den Jenaer Kollegen haben wir drei Forschungsfelder etabliert: Zum einen befassen wir uns mit der Wandelbarkeit polnischer Staatlichkeit und Gesellschaft – wir nennen es Rekonfigurationen – über die Zeiten. Zweitens geht es uns um ethnisch-religiöse, sprachliche und rechtliche Vielfalt und drittens um die europäischen und internationalen Verflechtungen Polens.

Sie richten sich allerdings nicht nur an die wissenschaftliche Community …
Es war von Anfang an klar, dass wir etwas für die breitere interessierte Öffentlichkeit anbieten wollen. Das passiert zum Beispiel in der Ringvorlesung „Was Sie schon immer über Polen wissen wollten (oder sollten)“, die es seit 2014 gibt. In ihr haben neben Kolleginnen und Kollegen aus der Region schon viele Gäste aus Polen, der Ukraine, England, den USA oder Österreich ihre Perspektiven eingebracht. Zu manchen Vorträgen kommen mehr als 50 Zuhörerinnen und Zuhörer. Populär sind zudem unsere Filmreihen, in denen jeweils vier bis fünf Filme unter einem Dachthema gezeigt und anschließend mit Expertinnen und Experten diskutiert werden. Es gab auch Ausstellungen. Gerade bereiten wir für das Jubiläum Mitte September eine neue vor, die als deutsch-polnisches Kooperationsprojekt von Studierenden während eines Blockseminars in Katowice entstanden ist.

Worum geht es?
Um das Theatermachen in Kattowitz/Katowice und eine kritische Auseinandersetzung damit. Das Schlesische Theater, damals Stadttheater, hatte von seiner Gründung im Deutschen Kaiserreich 1907 bis 1922 ein ausschließlich deutschsprachiges Programm, obwohl es eine starke polnische Minderheit gab. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Katowice nach einer Volksabstimmung polnisch und das Theater sollte nun die polnische Kultur fördern. Das Theater der deutschen Minderheit durfte aber weiter spielen. Zu einem radikalen Bruch kam es erst mit dem deutschen Einmarsch in Katowice im September 1939, auf den die Germanisierung des Theaters unter Ausschluss der polnischen und jüdischen Bevölkerung folgte.

Die Idee für unser Ausstellungsprojekt ist aufgekommen, als wir im Theater eine Galerie mit Fotos der Theaterdirektoren sahen – für die Zeit zwischen 1907 und 1922 waren nur die Namen der Direktorinnen und Direktoren aufgeführt, keine Fotos, keine weiteren Informationen. Das hat uns vor dem Hintergrund der positiven Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehung irritiert und zur Recherche angeregt. Die Ausstellung thematisiert jetzt die Biografien der Direktorinnen und Direktoren bis 1945, die politischen und ökonomischen Bedingungen für das Theatermachen und die Auseinandersetzung zwischen den Ensembles, die sich nicht nur in der Sprache unterschieden. Die Ausstellung wird vom 13. September bis zum 6. Oktober in der Zentralen Kustodie der MLU auf Deutsch und danach im Schlesischen Theater und an der Schlesischen Universität auf Polnisch beziehungsweise zweisprachig gezeigt.

Wo wir gerade von einem Studierendenprojekt reden: Der Masterstudiengang „Interdisziplinäre Polenstudien“ ist im Juni von der Akkreditierungskommission als „Kleinod der MLU“ bezeichnet worden …
Ja, das bezieht sich auf unser besonderes Angebot, ein überschaubares Pflichtprogramm zu Sprache, Geschichte und Kultur Polens mit einer eigenen Schwerpunktsetzung zu kombinieren. Auch auf unsere zahlreichen Exkursionen nach Polen und polnische Gastdozentinnen und -dozenten in Halle und Jena, durch die Studierende unmittelbar in Kontakt mit dem Land kommen. Die meisten verbringen unterstützt durch eine Förderung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ein Studiensemester an einer polnischen Universität ihrer Wahl. Schließlich spielt eine Rolle, dass in einem kleinen Studiengang eine intensive Betreuung möglich ist und die Studierenden am Aleksander-Brückner-Zentrum in die Forschung und in die Gestaltung des öffentlichen Programms hineinriechen können. Als Zwei-Fach-Master ist der Studiengang sehr breit mit anderen Fächern kombinierbar. Man kann sich also profilieren, je nachdem, wo man hinmöchte: seien es Kulturinstitutionen, die Sprachvermittlung, der diplomatische Dienst, die Öffentlichkeitsarbeit oder die Wissenschaft. Unsere Absolventinnen und Absolventen haben sehr gute Berufsaussichten.

Wenn Sie auf die vergangenen zehn Jahre zurückblicken: Was hat sich mit dem Aleksander-Brückner-Zentrum in Halle verändert?
Wir haben uns und unsere Aktivitäten nach und nach so vernetzt, dass wir keine Insel bilden. An unsere Veranstaltungen, die wir über StudIP auch für Interessierte anderer Fächer anbieten, können viele anknüpfen, in der Politikwissenschaft, der Germanistik, der Slavistik, der Geschichte … So bringen wir polnische Themen und Debatten über den kleinen Kreis der Studierenden aus dem Masterprogramm „Interdisziplinäre Polenstudien“ hinaus. Auch für Halle und die Region insgesamt ist Polen als Thema selbstverständlicher geworden, weil wir es in die Stadt hineintragen. Mit der Ringvorlesung, den Filmreihen, Lesungen im Literaturhaus – oder 2022 zum Beispiel mit einem Kooperationsprojekt mit der Oper Halle, an der die Oper „Manru“ des polnische Komponisten Ignacy Jan Paderewski nach mehr als 100 Jahren erstmals wieder auf einer deutschen Bühne aufgeführt wurde. Im Vorfeld haben wir ein zweitägiges öffentliches Symposium an der MLU organisiert.

Müssten Sie Highlights nennen und eine Bilanz in Zahlen ziehen – was stünde da?
Unsere größte Veranstaltung hier war der mit dem Deutschen Polen-Institut ausgerichtete 5. Kongress Polenforschung zum Thema Gerechtigkeit im März 2020 mit gut 200 aktiven Mitwirkenden – er war quasi das letzte, was vor der Corona-Zwangspause noch gelaufen ist. Wenn Sie nach Zahlen fragen: Wir hatten bis zu 15 Vorträge pro Jahr in der Ringvorlesung, genauso viele pro Semester in Kolloquien, jährlich mindestens eine Tagung. Seit 2014 haben uns 30 bis 40 Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler jeweils für mehrere Wochen besucht. Daraus haben sich Folgeprojekte entwickelt. Seit 2015 gibt es eine Buchreihe, in der jetzt Band 9 in Vorbereitung ist – dazu gehören auch die ersten an unserem Zentrum entstandenen Doktorarbeiten, die sich mit originellen Themen befassen – zum Beispiel mit der Verflechtung von polnischer, jüdischer und ukrainischer Geschichte, mit der Wirkmächtigkeit imperialer Architektur im geteilten Polen und mit dem Überschreiten von Geschlechtergrenzen in der polnischen Gegenwartsliteratur.

Eine künftige Aufgabe haben Sie mit der Ukraine-Forschung schon genannt. Darüber hinaus: Welchen Ausblick können Sie geben?
Ich sehe da drei Linien: Eine hat sich aus einem Workshop über Recht, die Sprache des Rechts und Gerechtigkeitsvorstellungen in Polen entwickelt, den wir 2017 veranstaltet haben. Damals haben wir uns zum ersten Mal mit interdisziplinärer Rechtsforschung beschäftigt – vor einem aktuellen Hintergrund: der intensiven Debatte über Rechtsstaatlichkeit in Polen. Auf der Grundlage des Workshops entstand 2020 auch das Dachthema „Gerechtigkeit“ des Kongresses Polenforschung. Diesen Pfad wollen wir weitergehen. Ein weiterer künftiger Schwerpunkt ist die Transformationsforschung. Paulina Gulińska-Jurgiel hat schon 2019 dazu eine Konferenz veranstaltet unter dem Titel „Poland 1989: Negotiations, (Re)Constructions, Interpretations“. Uns interessieren politische und gesellschaftliche Umbrüche. Auch am „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, das in Halle entsteht, werden wir uns gern beteiligen, wenn es so weit ist.

Das Jubiläumsprogramm

Das zehnjährige Bestehen des Aleksander-Brückner-Zentrums für Polenstudien wird mit einem dreitägigen Programm vom 13. bis 15. September gefeiert. Es beginnt in Halle und wird in Jena fortgesetzt. Den Auftakt bildet die Vernissage der von Studierenden sowie Dozentinnen und Dozenten aus Halle, Jena und Katowice gestalteten Ausstellung „Theater machen in Kattowitz-Katowice, 1907-1945“ am 13. September um 15.30 Uhr. Es folgen Musik auf dem Uniplatz, die Festveranstaltung im Audimax und am zweiten Tag ein Symposium unter dem Titel „Umstrittene Konzepte: Polen transnational, verflochten, (post)kolonial?“ mit internationalen Gästen. In Jena folgen unter anderem eine Lesung mit Szczepan Twardoch, ein Podiumsgespräch und ein weiteres Symposium. Das vollständige Programm ist auf der Website des Zentrums zu finden: Programm unter dem Titel "Blickrichtungen im Dialog – 10 Jahre Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien"

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