Kriegsberichterstattung: „Das Gefühl von Not ist ansteckend“

26.09.2023 von Tom Leonhardt in Wissenschaft, Forschung
Wie haben europäische und ukrainische Medien zu Beginn des Kriegs in der Ukraine berichtet? Zu dieser Frage hat die Linguistin Dr. Anna Verbytska an der MLU geforscht. Gefördert wurde sie im Rahmen des Gastforschungsprogramms für ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der VolkswagenStiftung. Im Interview spricht sie über ihre ersten Ergebnisse.
Anna Verbytska am Mitteldeutschen Multimediazentrum, wo die Abteilung Medien- und Kommunikationswissenschaft der Uni ihren Sitz hat und sie selbst inzwischen forscht
Anna Verbytska am Mitteldeutschen Multimediazentrum, wo die Abteilung Medien- und Kommunikationswissenschaft der Uni ihren Sitz hat und sie selbst inzwischen forscht (Foto: Markus Scholz)

Frau Verbytska, Sie haben bis zu Beginn des Kriegs an der Volyn National University in der Ukraine geforscht. Wie haben Sie selbst diese Zeit erlebt und wie kam es zu Ihrem neuen Forschungsprojekt?
Anna Verbytska: Das Lehrpersonal der Universität war ebenso deprimiert wie die Studierenden. Doch trotzdem nahm die Universität zwei Wochen nach Beginn des Kriegs ihren Betrieb online wieder auf. Das Thema für das Forschungsprojekt ergab sich von selbst. Ich beschloss, meine Doktorarbeit mit einem neuen Kontext von gesellschaftlicher Bedeutung und Relevanz zu verbinden. Den Antrag habe ich in einem Badezimmer geschrieben, das vielen Bewohnern eines Hochhauses als Bombenkeller diente – und an meinen heutigen akademischen Mentor geschickt. Es war der Beginn eines neuen Lebenskapitels, sowohl beruflich als auch persönlich in einem neuen Land.

Was haben Sie genau untersucht?
Ich wollte verstehen, wie verschiedene Medien über die Anfangsphase des Kriegs berichtet haben. Konzentriert habe ich mich dabei einerseits auf die Artikel von „Euronews“, einem europäischen Nachrichtenportal, und andererseits auf die Berichte des „Kiew Independent“ und der „Kyiv Post“, zwei der größten englischsprachigen Medien in der Ukraine. Beide richten sich an ein globales Publikum. Mein Schwerpunkt lag dabei auf Emotionen.

Eigentlich sollen Nachrichten doch aber gerade neutral, also nicht emotional sein. Warum untersuchen Sie Emotionen?
In den Medien werden Emotionen bewusst konstruiert, gesteuert und strategisch eingesetzt. Dass es keinen komplett neutralen, emotionslosen Journalismus gibt und nicht geben kann, ist seit Langem bekannt. Ohne emotionale Darstellungen sind journalistische Texte häufig kaum lesbar. Sie können in besonderem Maße Authentizität erzeugen. Denken Sie nur an Menschen, die zum Beispiel den Krieg hautnah miterlebt haben und davon berichten. Diese Augenzeugenberichte sind sehr emotional und wir glauben diesen Menschen. Die Perspektive von Reportern und Politikern auf das gleiche Thema sieht dagegen anders aus: Häufig bewerten oder interpretieren sie eine Situation. Wie Gefühle in journalistischen Beiträgen dargestellt werden, ist immer auch ein Ausdruck von Machtverhältnissen.

Was meinen Sie damit?
Gefühle werden gezielt genutzt, um eine Stimmung zu erzeugen. Das Gefühl von Not ist äußerst ansteckend – es erzeugt Mitgefühl. Mitgefühl ist eine wirklich treibende Kraft. Das sehen wir auch in der Ukraine: Zu Beginn des Kriegs zielte die Berichterstattung darauf ab, die Weltgemeinschaft ganz konkret über das Geschehen vor Ort zu informieren und um Hilfe zu bitten. Von großer Bedeutung war auch das Gefühl der Zugehörigkeit, also dass das, was in der Ukraine passiert, alle etwas angeht. Deshalb war in den ukrainischen Texten auch immer wieder zu lesen, dass die eigene Armee Werte wie Freiheit, Demokratie und Frieden verteidigt. Die Welt hat das gehört und reagiert.

Wie viele Artikel haben Sie analysiert?
Ich habe mir die Berichterstattung in den ersten vier Monaten des Kriegs angeschaut. Das waren für beide Medien fast 500 Artikel. Dabei ist mir relativ schnell aufgefallen, dass vor allem in der Ukraine der Fokus sehr stark auf Emotionen lag. Häufig ging es in den Berichten um die mentalen und physischen Folgen des Kriegs für die Menschen vor Ort. Aus europäischer Sicht standen politische Aspekte im Vordergrund: Zu Beginn des Kriegs vermied „Euronews“, die Situation in der Ukraine konkret zu benennen. Zunächst ging es um einen „Konflikt“ oder eine „Krise“ – der Begriff „Krieg“ tauchte nur vereinzelt auf.

Gab es Unterscheide, worüber berichtet wurde?
Ich hatte erwartet, dass es bei europäischen Medien stärker um die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs geht, etwa die Energie- oder die Lebensmittelkrise. Insgesamt war die Gewichtung der Themen jedoch ähnlich. Die Berichte aus der Ukraine hatten zunächst einen stärkeren Fokus auf die Militäraktionen und zum Beispiel die Frage, welche Waffen zum Einsatz kommen. Bei „Euronews“ ging es auch immer um politikorientierte Aspekte, wie der Konflikt beigelegt werden kann.

Was ist Ihnen bei der Analyse der ukrainischen Artikel noch aufgefallen?
Bildhafte Sprache schien besonders wichtig zu sein: So sollten die Kriegsverbrechen sichtbar gemacht und festgehalten werden, um sie der Welt zu zeigen. Gleichzeitig zeigte das: Wir haben keine Angst davor, darüber zu berichten, was gerade passiert. Sehr oft ging es auch darum, das Leiden, das physische und besonders auch das mentale, authentisch durch das Schicksal einzelner Personen darzustellen und durch Besitzwörter konkret zu verorten: Wessen Leid ist es, dein, mein oder unser Leid? Hier kamen auch emotionalisierende Formulierungen wie „sagte sie mit verzweifelter Stimme“ zum Einsatz.

Und das war bei „Euronews“ anders?
Im Detail schon. Beide Medien nutzten für den Themenkomplex „Leid, Not und Schmerz“ ähnliche Formulierungen und sie bedienten sich der Metapher des Traumas, um die Situation zu beschreiben. Allerdings kamen in den Beiträgen bei „Euronews“ weniger Betroffene direkt zu Wort. Interessant war für mich zudem, wie bestimmte Themen unterschiedlich erzählt werden.

Können Sie dafür Beispiele nennen?
Beide Medien haben zum Beispiel über Geflüchtete berichtet, allerdings mit völlig unterschiedlichen Narrativen. Bei „Euronews“ wurde häufig die Metapher einer Reise verwendet: Die Geflüchteten haben die Chance, woanders ein neues Leben zu starten. Es ging in den Berichten darum, wo sie ankommen und was sie dort tun können. In der Ukraine war das anders. Hier ging es darum, die Ursachen und Verursacher zu benennen, die Menschen zu Flüchtlingen machen. Ziel war es, so eine gemeinsame Erfahrungswelt zu schaffen, mit der sich die Weltgemeinschaft identifizieren kann.

Ihre Forschung zur Anfangsphase ist nun vorerst beendet. Wie geht es für Sie weiter?
Ich habe vor wenigen Wochen eine erneute Förderung der VolkswagenStiftung erhalten und werde weiter bei Prof. Dr. Patrick Vonderau in der Abteilung für Medien- und Kommunikationswissenschaften forschen. Ich werde nun den weiteren Verlauf der Berichterstattung analysieren – schließlich gab es so viele Meilensteine und Wendepunkte: hektische Gefechte, die latente Drohung mit einem nuklearen Angriff, der Kampf um Donbas, aber auch die Zustände in Russland – denken Sie nur an den Wagner-Aufstand. Mich interessiert, ob und wie sich die Berichterstattung weiterentwickelt hat.

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