„Dr. Lügner, das giftige Würmlein“

27.10.2022 von Katrin Löwe in Wissenschaft, Forschung, Varia
Schimpfen gehört zum Alltag. Doch wo kommen Schimpfwörter her, welche Funktion und welche Wirkung haben sie? Die Altgermanistin Dr. Andrea Seidel beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiver mit dem Thema. Gemeinsam mit Studierenden hat sie nun eine Ausstellung dazu gestaltet.
Andrea Seidel hat sich intensiv mit Schimpfwörtern befasst. Hier steht sie im Treppenhaus des Löwengebäudes, wo auch die Ausstellung gezeigt wird.
Andrea Seidel hat sich intensiv mit Schimpfwörtern befasst. Hier steht sie im Treppenhaus des Löwengebäudes, wo auch die Ausstellung gezeigt wird. (Foto: Markus Scholz)

Martin Luther ist bekannt dafür, dass es sprachlich bei ihm auch mal derb zuging. Bei Thomas Müntzer, erst einer seiner Bewunderer, dann ein Gegner, war es nicht viel anders. „Müntzer beleidigt Luther in einer Art und Weise, dass das schon hätte juristisch ausgestritten werden können“, sagt Dr. Andrea Seidel, Altgermanistin an der MLU. Nur ein paar Beispiele: Als Dr. Lügner, Stocknarr, Lästermaul, giftiges Würmlein oder Höllenhund wurde der Reformator von Müntzer bezeichnet, auch als das „geistlose, sanft lebende Fleisch zu Wittenberg“. Freilich war auch Luther nicht zimperlich, zum Beispiel, was seine Wortwahl gegenüber der katholischen Kirche anging. Sie war für ihn ein Otterngezücht – abgeleitet von Giftschlangen –, der Papst ein Hurenwirt. „Ei, pfui Teufel, wie hat sich der Pabst-Esel beschissen“, lästerte Luther einst. Was allein an diesen Auszügen deutlich wird: Häufig, sagt Seidel, finden sich bei Schimpfwörtern fäkalische, sexuelle oder sexistische, auch tierische Bezüge. In der von ihr mit Studierenden gestalteten Ausstellung „Spotten – Schmähen – Schelten. Die Kraft der Sprache“ spielt das Schimpfen im Mittelalter eine besondere Rolle.

Seidel befasst sich seit einigen Jahren mit Schimpfwörtern, aus der historischen Sprachwissenschaft heraus, über die Dialektforschung, aber auch aufgrund von Medienanfragen. Am Anfang ihrer Forschung stand für sie die Erkenntnis: Es gibt keine allgemeingültige Definition, auch kein Standardwerk. „Das hat mich neugierig gemacht“, sagt Seidel. Auch die Zahl der linguistischen Publikationen zum Thema sei im Jahr 2011 mit 30 noch sehr überschaubar gewesen, ebenso die Zahl der damit befassten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Mögliche Gründe dafür? „Schimpfwortgebrauch ist unglaublich individuell“, sagt Seidel, das mache es schwierig, eine Norm festzuschreiben. Und er ändert sich oft. Die heute eher harmlos anmutenden Bezeichnungen „Schalk“ oder „Bösewicht“ zum Beispiel hätten zu Luthers Zeiten sogar Klagepotenzial geboten, sagt die Wissenschaftlerin. „Daran sieht man, wie wichtig es ist, ein Gefühl für Sprache und ihren Wandel zu entwickeln“ – jedenfalls, wenn man Texte auch heute noch korrekt verstehen wolle. Andere Schimpfwörter hingegen gingen verloren, wie Plattenhengst für unkeusche Mönche – die Platte steht für die Tonsur, der Hengst für den sexuell aktiven Mann. Oder der Gnadendiener, den man heute als Speichellecker bezeichnen würde, und der Keibe, ein schlechter Mensch oder Verbrecher.

Die Germanistin hat aber nicht nur die Reformationsliteratur genauer ins Auge gefasst, sondern auch Forschungsliteratur oder Wörterbücher aus verschiedenen Zeiten, die inzwischen zum Teil auch online verfügbar sind. Geschimpft, sagt sie, wurde schon weit vor Luther und Co. Ab dem 12. Jahrhundert beispielsweise gab es eine Konjunktur so genannter „Redezuchten“, Predigten, moraltheologische Traktate und Handbücher, die sich den „Sünden der Zunge“ widmeten. „Es schien also wichtig zu sein – sonst wäre es nicht zum Thema geworden.“ Was aber wurde zum Schimpfwort? Zum einen, sagt Seidel, war es im Mittelalter das Umfeld von Berufsgruppen, die nicht gesellschaftlich angesehen waren – der Galgenvogel etwa für den Henker. „Hier erfolgte eine Verunglimpfung und bewusste Ausgrenzung von Berufen, sozialen Randgruppen wie zum Beispiel Bettlern und Landstreichern, und Religionsgemeinschaften.“

„Ähnlich ist es auch heute“, sagt Seidel – man denke nur an Prostituierte und die damit lange Zeit verbundene Abwertung. Hure selbst sei zwar noch nicht zwingend ein Schimpfwort, sondern die Bezeichnung einer Frau, die Liebesdienste erbringt. Hurenkind aber sehr wohl. Einen Unterschied zwischen damals und heute macht Seidel dennoch fest, am mittlerweile auch hierzulande gebräuchlichen englischen Wort „Bitch“ für Schlampe. „Wir haben inzwischen ein gewisses Selbstbewusstsein.“  Rapperinnen etwa bezeichnen sich durchaus auch selbst als Bitch – das funktioniere aber auch nur in einer Gruppendynamik oder Jugendsprache, auf der Straße möchte sicher niemand von Fremden so bezeichnet werden.

Die Funktion von Schimpfwörtern reicht vom Beleidigen bis hin zum Ausgrenzen und daran hat sich aus Sicht von Seidel bis auf den gesellschaftlichen Kontext auch nicht viel geändert, weil sich an der zugrundeliegenden Emotion, der Wut, nichts geändert hat. In den Redezuchten aus dem 12. Jahrhundert sieht sie indes eine Instanz, die es heute nicht gebe. Zwar bezeichne der Duden bestimmte Worte als derb oder Schimpfwort, aber selbst in der Schule fehle mitunter die Kompetenz, bei Kindern und Jugendlichen das Bewusstsein für Sprache zu erzeugen.

Insofern soll die Ausstellung „Spotten – Schmähen – Schelten. Die Kraft der Sprache“ auch zum Nachdenken anregen. Nicht nur über die Geschichte der Schimpfwörter und deren Bedeutung, sondern etwa über kreatives und humorvolles Schimpfen, aber auch über das heutige „hatespeech“. Die Hassreden im Netz seien zwar einerseits ganz anders als früher, weil oft anonym, aber deshalb nicht minder verletzend wie Schimpfwörter anno dazumal. Noch dazu fördere vermutlich die Vielfalt an Medien die Entwicklung und den Gebrauch von Schimpfwörtern – ähnlich wie etwa schon die verstärkte Kommunikation im 12. Jahrhundert oder der Buchdruck in der Reformationszeit.

Eine weitere ihrer bisherigen Erkenntnisse ist ebenfalls Thema der Ausstellung: „Im Dialekt wird mehr geschimpft.“ Wer Dialektwörterbücher aufschlage, finde einen großen Anteil an Schimpfwörtern. Im Dialekt werde insgesamt weniger tabuisiert und der Aspekt des verletzenden Sprechens werde offensichtlich anders als in der Hochsprache bewertet. „Möglicherweise ist das Verletzungspotential bei Wörtern im Dialekt geringer, zum Beispiel bei ,ahler Gackesel‘ und ,Zankdeibel‘ statt ,alter Kackesel‘ und ,Zankteufel‘.“ Und: Manche Worte funktionieren sogar sowohl als Beschimpfung als auch als Anerkennung: Aas etwa oder auch der hallesche Scheeks wird – vorzugsweise unter Männern – in beiden Varianten genutzt. An der Stelle ist Seidel wieder am Anfang: Schimpfwörter sind schwer in einer Norm zu fassen – aber auch das macht sie in allen Jahrhunderten spannend und vielfältig.

Ausstellung "Die Kraft der Sprache. Spotten - Schmähen - Schelten"
28. Oktober 2022 bis 31. März 2023
Zentrale Kustodie
Universitätsplatz 11 (Löwengebäude, Treppenhaus)
06108 Halle (Saale)

Schlagwörter

Germanistik

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