Bestandsanalyse Artenvielfalt

02.07.2025 von Matthias Münch in Jahrbuch, Wissenschaft, Forschung, Wissenstransfer
Die Biodiversitätsforschung ist eine Domäne der Universität Halle. Das zeigt nicht zuletzt der „Faktencheck Artenvielfalt“, die erste umfassende Zeitreihenanalyse zur Biodiversität in Deutschland. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der MLU waren maßgeblich daran beteiligt.
Helge Bruelheide erforscht, wie es um die Artenvielfalt in Deutschland bestellt ist
Helge Bruelheide erforscht, wie es um die Artenvielfalt in Deutschland bestellt ist (Foto: Heiko Rebsch)

Mit seinen leuchtend roten Blüten ist das Sommer-Adonisröschen ein Farbtupfer auf Feldern und Äckern – wenn man es denn irgendwo entdeckt. „Vor wenigen Jahrzehnten noch war das Adonisröschen eine typische Begleitpflanze von Wintergetreide“, sagt Prof. Dr. Helge Bruelheide. „Inzwischen ist es fast komplett verschwunden, ebenso wie andere Wildkräuter, etwa der Acker-Schwarzkümmel, der Venuskamm, die Kornrade oder das Rundblättrige Hasenohr.“ Hauptgrund für das Artensterben ist eine zunehmend intensive Landwirtschaft mit penibler Saatgutreinigung, massivem Herbizid- und Düngemitteleinsatz und mangelnder Fruchtfolge. „Unsere Studierenden sind vermutlich die letzte Generation, die diese Wildkräuter in unserer Kulturlandschaft noch erlebt.“ 

Helge Bruelheide ist Inhaber des Lehrstuhls für Geobotanik und Leiter des Botanischen Gartens der MLU. Und er ist einer der renommiertesten Biodiversitätsforscher Deutschlands. Gemeinsam mit Forschenden der Universitäten Leipzig und Marburg sowie des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) hat er 2024 den „Faktencheck Artenvielfalt“ herausgegeben, die erste umfassende Bestandsanalyse zur Artenvielfalt in Deutschland. Mehr als 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von 75 Einrichtungen und Verbänden haben daran mitgearbeitet und über 6.000 Publikationen ausgewertet. „Die Problematik des Artensterbens ist grundsätzlich bekannt. Aber wie es um die Pflanzenwelt in Deutschland konkret bestellt ist, wurde bislang nicht flächendeckend erhoben“, erklärt Bruelheide.

Um langfristige Entwicklungen zu erkennen, wurde für den Faktencheck ein bisher nicht dagewesener Datensatz von rund 15.000 Trends aus knapp 6.200 Zeitreihen erstellt und analysiert. Das ernüchternde Ergebnis: Von den untersuchten heimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten ist fast ein Drittel bestandsgefährdet, etwa drei Prozent sind sogar bereits ausgestorben. Konkret bedeutet das: Von den 72.000 Arten in Deutschland sind mehr als 10.000 bedroht. Mehr als die Hälfte der natürlichen Lebensraumtypen in Deutschland befinden sich in einem ökologisch labilen Zustand, täglich verschwinden weitere wertvolle Habitatflächen. Am schlechtesten steht es um ehemals artenreiche Äcker und Grünland, Moore, Moorwälder, Sümpfe und Quellen. 

Bereits 2022 haben Forschende der MLU in einer aufsehenerregenden Studie gezeigt, welche Erkenntnisse aus Zeitreihendaten gewonnen werden können. Sie hatten eine Fülle lokaler Arbeiten in ganz Deutschland zusammengetragen, die zum Teil noch unveröffentlicht waren. Untersucht wurden mehr als 7.700 Flächen, deren Pflanzenbestand – immerhin rund 1.800 Arten – zwischen 1927 und 2020 mehrfach erfasst wurde. Die im Fachjournal „Nature“ publizierte Analyse offenbarte einen deutlichen Verlust an Vielfalt: Bei 1.011 der untersuchten Arten ging der Bestand in den letzten einhundert Jahren zurück, bei 719 nahm er zu. Zu den Gewinnern dieser Entwicklung zählen Traubenkirsche, Roteiche und Stechpalme. Im großen Lager der Verlierer finden sich Wildkräuter, Wiesenblumen und Feuchtgebietspflanzen. Den Beginn dieser Entwicklung datieren die Forschenden auf das Ende der 1960er Jahre – sie sehen hier einen klaren Zusammenhang mit der starken Intensivierung der Landnutzung zu dieser Zeit.

Sowohl der Faktencheck als auch die in „Nature“ veröffentlichte Studie offenbaren jedoch ein grundsätzliches Problem der bisherigen Biodiversitätsforschung: Es gibt kaum valide Daten über dieselben Habitate im Zeitverlauf. „Ich habe vor 37 Jahren die Artenvielfalt der Kalkmagerrasen im Meißnergebiet in Nordhessen für meine Diplomarbeit analysiert und dabei jede – auch nicht blühende – Pflanze in den abgesteckten Flächen notiert“, berichtet Bruelheide. „Später habe ich bedauert, dass die Flächen nicht markiert worden sind, um Veränderungen über die Jahre und Jahrzehnte dokumentieren zu können. Seit meiner Doktorarbeit über die Bergwiesen im Harz vermessen und markieren wir nun die Flächen.“ Neben fehlenden Langzeitdokumentationen wird die geobotanische Forschung auch dadurch erschwert, dass es kein einheitliches arten- und lebensraumübergreifendes System gibt, das die Verknüpfung von Daten zulässt.

An der Überwindung dieser Defizite arbeitet das Deutsche Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig, kurz: iDiv (siehe Infokasten). Helge Bruelheide hat das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Zentrum im Jahre 2012 mitgegründet und war maßgeblich an seinem Aufbau beteiligt. Das iDiv will Forschungsdaten aus verschiedenen Initiativen zusammenführen, die sich mit der Pflanzenvielfalt in Ökosystemen beschäftigen. Im Projekt sPlot beispielsweise werden Vegetationsdaten aus der ganzen Welt in eine harmonisierte Datenbank überführt. Bereits heute enthält sPlot mehr als 2,5 Millionen Datensätze mit vollständigen Listen und Mengenangaben von Pflanzenarten, die in den verschiedensten Ökosystemen der Erde zusammen vorkommen. Bruelheide: „Die Integration internationaler Vegetationsdaten ermöglicht es uns, globale Muster der Pflanzenvielfalt zu verstehen.“

Auch wenn die Daten zur globalen Artenvielfalt insgesamt alarmierend sind – es gibt auch positive Entwicklungen. Der Faktencheck in Deutschland etwa konstatiert eine deutliche Verbesserung der Wasserqualität unserer Flüsse und damit auch der Lebensbedingungen der wassernahen Flora und Fauna. „Wir sehen heute mehr Libellenarten als vor 30 Jahren“, sagt Bruelheide. „Das zeigt, dass umweltpolitische Maßnahmen, zum Beispiel die Reinigung von Abwässern und die Renaturierung von Wasserläufen, nachhaltige Effekte haben.“ Dass Biodiversität nur Kosten verursache, sei eine sehr eindimensionale Sichtweise: Intakte Naturlandschaften seien essenziell für den Tourismus und für unser Wohlbefinden, und die Umstellung auf eine resiliente Landwirtschaft trage dazu bei, unsere Ernährung auch in Zukunft zu sichern. „Diversität auf Feldern und Äckern reduziert Ernteausfälle, ein schonend genutzter Boden braucht weniger synthetischen Dünger, und eine geringere Saatdichte ist attraktiv für bodenbrütende Feldvögel.“ Und lässt mehr Raum für bedrohte Wildkräuter, zum Beispiel das Sommer-Adonisröschen.

Das iDiv

Das Hauptgebäude des iDiv
Das Hauptgebäude des iDiv (Foto: Stefan Bernhardt)

Das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig wurde 2012 gegründet, um den Wandel von Ökosystemen und Artenvielfalt zu erforschen. Die MLU ist mit vielen herausragenden Forschenden vertreten: Prof. Dr. Jonathan Chase ist Experte dafür, große Datensätze zur Verbreitung von Arten zu kombinieren. 2023 erhielt er einen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrates. Prof. Dr. Henrique Pereira ist Mitglied im Weltbiodiversitätsrat und arbeitet daran, Forschungsergebnisse für politische Entscheidungsprozesse nutzbar zu machen. Bis 2024 förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) das iDiv, künftig sichern Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen neben den tragenden Institutionen – MLU, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Universität Leipzig und Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) – die Finanzierung des weltweit bekannten Forschungszentrums.

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