Seile sind keine Balken

25.03.2024 von Matthias Münch in Wissenschaft, Forschung
Seile, Kabel, Schläuche und Endoskope sowie deren Belastbarkeit werden noch heute mit Methoden modelliert, die eigentlich für feste Bauteile vorgesehen sind. Das Graduierten-Netzwerk THREAD ist 2019 mit dem Ziel gestartet, Simulationsmethoden speziell für Systeme mit flexiblen Komponenten zu entwickeln. Es ist das erste europäische Doktorandennetzwerk, das von der MLU koordiniert wird. In diesem Monat wird es abgeschlossen. Koordinator Prof. Dr. Martin Arnold zieht im Interview mit „campus halensis“ Bilanz.
Im Rahmen des Doktorandennetzwerks wurde ein Computermodell zur Optimierung dieser in einem belgischen Forschungszentrum stehenden Maschine entwickelt, die technische Gewebe produziert.
Im Rahmen des Doktorandennetzwerks wurde ein Computermodell zur Optimierung dieser in einem belgischen Forschungszentrum stehenden Maschine entwickelt, die technische Gewebe produziert. (Foto: Indrajeet Patil)

Herr Professor Arnold, welches Ziel hat das Graduiertennetzwerk THREAD?
Das Netzwerk behandelt technische Systeme, die aus flexiblen Komponenten bestehen. Das können Stromleitungen und Kabelbäume sein, Schläuche aller Art, Seilbahnen oder medizinische Endoskope. Aufgrund ihrer Flexibilität ist es sehr schwer, ihr Verhalten genau vorherzusagen. Bis heute konstruiert und simuliert man solche Komponenten mit der Balkentheorie, einem klassischen Modell der technischen Mechanik. Weil dieses Modell für Seile oder Kabel nur bedingt geeignet ist, setzen viele Unternehmen bei der Entwicklung solcher Produkte in erheblichem Umfang auf Erfahrungswissen, was natürlich nicht sehr befriedigend ist und Optimierungen nur in begrenztem Maße zulässt.

Was machen Sie in THREAD anders?
Wir verfolgen den Ansatz der geometrischen Integration. Im Gegensatz zu klassischen Methoden der Elastizitätsberechnung, bei denen ein Balken in kleinste Teile zerlegt wird, integrieren wir alle Komponenten eines Systems, etwa eines medizinischen Endoskops, in ein Modell und nutzen den Energieerhaltungssatz und andere Erhaltungsgrößen, um das Verhalten der flexiblen Strukturen zuverlässig vorherzusagen. Die Entwicklung eines solchen Modells und seine Anwendung auf Prototypen und Produkte braucht eine neue Generation interdisziplinär ausgebildeter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die wir in THREAD gewonnen haben.

Wie ist das Doktorandennetzwerk organisiert?
Das Netzwerk ist ein Zusammenschluss von Wissenschaft und Industrie. 14 Doktorandinnen und Doktoranden bearbeiten im Rahmen ihrer Promotion je ein Forschungsthema aus insgesamt neun Einsatzgebieten, darunter Textilien, Automobilbau, Raumfahrt oder Medizintechnik. Neben der MLU, die das Netzwerk koordiniert, sind elf weitere Universitäten und Forschungseinrichtungen aus acht europäischen Ländern beteiligt. Essenzieller Bestandteil des Programms waren dreimonatige Praktika der Promovierenden in den Partnerunternehmen, in denen zudem über die gesamte Projektlaufzeit hinweg Ansprechpartner für einen konstruktiven Austausch zur Verfügung standen.

Martin Arnold
Martin Arnold (Foto: Moritz Peters)

Wie hält man ein Netzwerk zusammen, das aus 14 Einzelprojekten besteht und über ganz Europa verteilt ist?
Zunächst einmal haben nicht alle Promovierenden isoliert gearbeitet, sondern gemeinsam in den Arbeitspaketen, die sich an neun ‚Industrial Challenges‘ orientiert haben. Dort gab es den intensivsten Austausch. Zusätzlich wurden bereichsübergreifende Trainings organisiert, die sich an alle Promovierenden gerichtet haben und nicht nur Mathematik, Informatik oder Mechanik zum Thema hatten, sondern beispielsweise auch ethische Fragen, Verwertung von Forschungsergebnissen und Unternehmertum. Die wichtigste Maßnahme für den Team-Sprit aber waren – neben den halbjährlichen Online-Meetings und dem lebendigen News-Bereich unserer Internetplattform – die jährlichen Präsenztreffen, wobei wir dabei auch auf unerwartete Hindernisse gestoßen sind.

Inwiefern?
Bei unserem Auftakttreffen im Oktober 2019 ahnten wir noch nicht, dass uns Covid-19 in den kommenden Monaten die Organisation ziemlich erschweren würde. Manche Doktorandinnen und Doktoranden konnten wegen der Reisebeschränkungen temporär nicht an ‚ihre‘ Universität kommen. Das erste Präsenztraining fand dann im September 2020 in der Nähe von Innsbruck statt, und alle dachten, wir hätten es überstanden, was sich im Nachhinein als Wunschdenken herausstellte. Sicher kann man über Online-Konferenzen viele Themen virtuell bearbeiten, aber ganz ohne Präsenzveranstaltungen funktioniert es dann eben doch nicht. Das ist auch der Grund, warum wir das Projekt nicht wie geplant im vergangenen September beendet haben, sondern erst Ende März 2024 abschließen werden.

Sie haben das Projektende angesprochen. Welche Bilanz ziehen Sie?
Eine durchweg positive. Von den gestarteten 14 Promovierenden sind zwölf noch dabei, zwei neue Jungwissenschaftler sind nachgerückt. Bislang konnten zwei Promotionen abgeschlossen werden, bis Ende März werden drei weitere Dissertationen eingereicht, bis Ende 2024 erwarten wir insgesamt elf erfolgreiche Promotionsvorhaben.

Hat der Austausch mit den Industriepartnern bereits zu neuen oder verbesserten Anwendungen geführt?
Das ist natürlich immer die Erwartung, dass eine Kooperation zwischen Wissenschaft und Industrie schnell zu anwendungsbezogenen Ergebnissen führt. Die gab es in der Tat – so hat sich zum Beispiel Indrajeet Patil, ein aus Indien stammender Maschinenbauingenieur, an der Universität Lüttich mit der Simulation von Textilherstellungsprozessen beschäftigt. Aufgrund seiner Forschungsarbeit konnte ein Computermodell entwickelt werden zur Optimierung einer Maschine, die technische Gewebe, etwa für Feuerwehrschläuche, produziert. Das Gros der Projekte allerdings befasst sich mit der Modellierung vor allem von Seilen und Kabeln. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse sind wichtig, verändern die Herstellungsprozesse, etwa im Automotive-Bereich, jedoch nicht innerhalb weniger Monate.

Wie geht es nach THREAD weiter? Gibt es ein Anschlussprojekt?
Anfang Februar fand an der Leucorea in Wittenberg unser Abschlusstreffen mit allen Promovierenden, wissenschaftlichen Betreuern und Mitgliedern des Konsortiums statt. Hier wurden die Projektergebnisse zusammengefasst und der Stand der Promotionsvorhaben vorgestellt. Wir haben die Zusammenkunft genutzt, um über eine Fortsetzung des Netzwerks im Rahmen von ‚Horizon Europe‘ zu sprechen. Das neue Verbundprojekt, sollte es denn bewilligt werden, sieht eine stärkere Einbindung von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen in die Modellierung vor. Außerdem streben wir sogenannte Joint Doctorates an, bei denen an jedem der Promotionsvorhaben mindestens zwei Einrichtungen verschiedener EU-Staaten beteiligt sind. Wir hoffen sehr, mit diesem Konzept erfolgreich zu sein.

Über das Netzwerk "THREAD"

Das europäische Doktorandennetzwerk „Joint Training on Numerical Modelling of Highly Flexible Structures for Industrial Applications“ (THREAD) wird im Rahmen des Marie-Skłodowska-Curie-Programms der Europäischen Kommission mit rund 3,6 Millionen Euro für vier Jahre gefördert. Beteiligt sind Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Kroatien, Norwegen, Österreich, Slowenien und Spanien, zudem 13 nicht-akademische Einrichtungen, insbesondere Industriepartner. Für die Qualität und Relevanz des Netzwerk-Konzeptes spricht, dass 2019 nur 103 der 1.341 begutachteten Projektanträge bewilligt wurden. THREAD ist das erste Marie-Skłodowska-Curie-Doktorandennetzwerk, das von der Martin-Luther-Universität koordiniert wird.

Die Website des Netzwerks: https://thread-etn.eu/

 

Schlagwörter

Mathematik

Kommentar schreiben

Auf unserer Webseite werden Cookies gemäß unserer Datenschutzerklärung verwendet. Wenn Sie weiter auf diesen Seiten surfen, erklären Sie sich damit einverstanden. Einverstanden