„Wissenschaft muss sehr viel stärker auf die Gesellschaft zugehen“

Wenn Sie das Jahr 2024 mit einem Satz beschreiben, wie lautet er?
Claudia Becker: 2024 war ein intensives Jahr, es war vielfältig, bunt und einfach rund. Im Januar 2024 wurde der Hochschulentwicklungs plan (HEP) vom Senat beschlossen, der Grundlage für die Zielvereinbarungsperiode bis 2029 mit dem Land ist.
Wie ist der Stand der Dinge?
Die Erarbeitung des HEP war ein langer, aber sehr wichtiger Prozess. Wir haben darin beschrieben, wie das Profil der Universität ausgestaltet werden soll – dass wir die Internationalisierung intensivieren, den Forschungsoutput erhöhen, die Drittmittelquote verbessern und mehr digitale Kompetenzen im Studium vermitteln wollen, um die wichtigsten Ziele zu nennen. Diese Punkte finden sich auch in den Zielvereinbarungen mit dem Land wieder. Mit dem HEP haben wir ein Gerüst für die zielgerichtete Ausgestaltung von Pfaden, die wir angelegt haben. Diese Kontinuität hat uns bislang gefehlt. Zugleich ist der Plan kein starres Korsett – die Universität ist stets offen für Zukunftswege und in ihrer Entwicklung nicht eingeschränkt.
Wird sich die Universität verändern?
Jede Universität muss und wird sich immer wieder verändern. Was wir allerdings nicht bekommen werden, ist eine grundlegend andere MLU, als wirsie heute haben. Dafür ist der HEP nicht gedacht und das wollen wir, glaube ich, auch alle nicht. Tatsächlich möchten wir die Breite der Universität weitgehend erhalten und eher versuchen, die formulierten Profillinien an einzelnen Stellen konkreter auszugestalten.
Die Profilierung der MLU soll über drei Profillinien gelenkt werden: Transformation, Nachhaltigkeit sowie Wissenskulturen und Bildung. Diese sind breit angelegt. Warum?
Die Idee der Profillinien ist, ein Dach zu bilden, unter dem sich die gesamte Universität versammeln kann. Die Linien sind aus dem gewachsen, was da ist: aus den Projekten, den Schwerpunkten, den Veröffentlichungen. Was jetzt folgen muss, ist die konkrete Ausgestaltung und Modellierung – also die Beantwortung der Frage, auf welche Schwerpunkte wir hinarbeiten wollen. Denn aus dem abgesteckten Rahmen müssen natürlich ganz konkrete Initiativen hervorgehen: neue Forschungsnetzwerke, Studienschwerpunkte, Graduiertenkollegs, Sonderforschungsbereiche und Exzellenzanträge.
Mit Blick auf Forschungsförderungen war 2024 ein tolles Jahr – für das European Center of Just Transition Research and Impact-Driven Transfer (JTC) erhielt die MLU eine 21,5-Millionen-Euro-Förderung, ein neuer Sonderforschungsbereich kam hinzu, der DiP-Verbund, der die Digitalisierung in der Landwirtschaft voranbringen soll … Die Liste der Millionenprojekte ließe sich fortsetzen. Wie bewerten Sie das?
2024 war in der Tat außergewöhnlich, das muss man schon sagen, und das kann selbst eine große Universität nicht jedes Jahr erwarten. Der Erfolg lässt sich auf zwei zentrale Dinge zurückführen: Zum einen haben wir einfach dieses großartige Potenzial an unserer MLU, die herausragenden Forschenden, die mit ihrer Arbeit den Grundstein dafür legen, dass wir solche Projekte überhaupt einwerben können. Das ist einfach eine Stärke, die wir im Moment haben, und das finde ich fantastisch. Zum anderen muss man sich klarmachen, dass das nicht aus dem Nichts heraus passiert, sondern es muss erst einmal in Ideen investiert und Forschung betrieben werden, es braucht einen wissenschaftlichen Austausch, es müssen Publikationen entstehen. Was wir jetzt ernten, so ehrlich muss man sein, sind die Früchte dessen, was teilweise schon unter den Vorvorgängerrektoraten gesät worden ist. Das heißt, Forschung braucht einen langen Atem. Deswegen ist auch eine Grundfinanzierung aus dem Landeshaushalt so wichtig.
Das JTC, die Agentur für Aufbruch – die MLU strahlt aktuell intensiv in die Region, mit konkreten Projekten und auch mit Büros und Scouts vor Ort. Ist das eine neue Qualität von „Third Mission“?
Wissenschaft muss heute sehr viel stärker auf die Gesellschaft zugehen. Früher sind Forschungsergebnisse in Wissenschaftskreisen veröffentlicht worden, und daraus haben sich dann Dinge ergeben, die auch für die Gesellschaft relevant waren. Mittlerweile wird viel mehr hinterfragt, wofür Wissenschaft eigentlich gut ist. Wir müssen zeigen, dass wir keine Spielerei von Privilegierten betreiben, sondern dass wir die Ergebnisse von Wissenschaft ganz konkret nutzen, um den Menschen in diesem Land Unterstützung zu geben – sei es durch Erfindungen, durch Optimierungen oder durch die Stärkung des gesellschaftlichen Miteinanders.
Das bringt uns auch zum Thema Fachkräftesicherung für die Region. Inwiefern ist das für die MLU ein Thema?
Das ist ein sehr wichtiges Thema. Erstens ist die MLU selbst eine große Arbeitgeberin. Das heißt, wir brauchen selbst Fachkräfte. Zweitens bilden wir tausende junge Menschen aus – Studierende, die später als akademische Fachkräfte die Zukunft unseres Landes gestalten: in der Wirtschaft, in der Verwaltung, im Rechtswesen, in der Medizin, in den Schulen. Wir bilden aber auch klassisch aus, denken Sie nur an technische und kaufmännische Berufe. Drittens wollen wir, dass in unserer Region die Lichter nicht nur anbleiben, sondern dass sie heller leuchten. Dazu möchten wir beitragen, zum Beispiel durch Forschungskooperationen oder die Fachkräfteallianz Sachsen-Anhalt Süd, der wir 2024 beigetreten sind.
In Halle entsteht das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation. Welche Chancen bietet das der MLU?
Ich finde es großartig, dass Halle den Zuschlag bekommen hat. Ich selbst durfte beim Vor-Ort-Besuch der Jury dabei sein, das war 2023. Die reichhaltige Wissenschaftslandschaft in der Stadt war sicherlich ein großer Pluspunkt für die Entscheidung, und die MLU ist dabei natürlich ein wichtiger Player. Da es das Zukunftszentrum als festes Konstrukt noch nicht gibt, haben wir hier die Chance mitzugestalten. Ich denke, das Zentrum gibt uns die Möglichkeit, auf besondere Weise in die Gesellschaft hinein zu wirken.
Werfen wir einen Blick auf Studium und Lehre. Auch hier bewegt sich vieles. Was denken Sie – wie entwickelt sich die MLU?
Wir haben 2024 das Leitbild Lehre verankert und darin Ziele, Aufgaben und die strategische Orientierung formuliert. Wie beim HEP haben wir mit einer größeren Linie begonnen, die jetzt im Detail ausgestaltet wird. Digitalisierungsstrategie und Internationalisierung werden zentrale Punkte dabei sein. Wir haben an der MLU unglaublich viele Menschen, die die Universität nach vorne bringen wollen. Wir haben eine Rektoratskommission zur Zukunft von Studium und Lehre, in der viele Freiwillige aktiv sind. Die Ergebnisse, Zwischenstände und Denkanstöße werden immer am Tag der Lehre präsentiert und diskutiert, unter immer größerer Beteiligung der Hochschulöffentlichkeit. Dieses Engagement gibt es nicht erst seit gestern, aber es nimmt jetzt richtig Fahrt auf.
Und noch ein Beispiel: Das neu eingeführte E-Examen in der Juristenausbildung ist mit Sicherheit ein großer Gewinn, weil es viele Dinge vereinfacht. Wir sind sehr gut unterwegs, was digitale Prüfungen angeht. Um in der Lehre modern und attraktiv zu bleiben, müssen wir uns ständig neu erfinden. Ich denke da an digitale und hybride Veranstaltungen, an aktivierende Präsenzformate, an die Vereinbarkeit von Studium mit Familie.
Die Ausbildung künftiger Lehrerinnen und Lehrer ist ein wichtiges Thema an der MLU. Eine große Herausforderung ist allerdings, Studierende zu gewinnen. Was tut die MLU dafür?
Wir haben in der Tat einen großen Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern. Gerade in Zeiten des akuten Fachkräftemangels ist es wichtig, junge Menschen für diesen Beruf zu begeistern. Das scheint aber aus zwei Gründen schwierig zu sein: Einerseits wird das Berufsbild idealisiert – man kann mit jungen Leuten arbeiten, Wissen vermitteln, die Zukunft gestalten. Andererseits wird der Schulalltag in den Medien bisweilen negativ dargestellt. Beides ist problematisch: Wer mit überzogenen Erwartungen zu uns kommt, bricht sein Studium ab, wer sich Angst machen lässt, kommt erst gar nicht. Wir haben deshalb begonnen, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, zum Beispiel mit unserer Herbstuni. Wir haben Schülerinnen und Schüler im gesamten Bundesgebiet angesprochen und nach Halle eingeladen, um zwei Tage lang zu zeigen, wie Unterrichten an der Schule und das Lehramtsstudium tatsächlich aussehen. Für diese Idee wurden wir vom Stifterverband mit der Hochschulperle ausgezeichnet.
Eine Frage zur Erinnerungskultur an der MLU. 2024 wurde ein Hörsaal nach dem Alumnus Anton Wilhelm Amo benannt. Das stieß auf großes öffentliches Interesse. Was denken Sie – kam die Ehrung zur rechten Zeit?
Auf jeden Fall, vor allem, wenn man sich die aktuelle Stimmungslage anschaut. Wir reden gerade viel über Migration, über notwendige und nicht gewollte Zuwanderung. Gerade für die Wissenschaft, für die forschungsbasierte Bildung kommender Generationen sind Weltoffenheit, freier Gedankenaustausch, Vielfalt und Toleranz, die Akzeptanz von Unterschieden und auch das Finden gemeinsamer Lösungen absolut unverzichtbar. Amo zeigt uns, dass es in unserer eigenen Universitätsgeschichte schon sehr früh zumindest einzelne Personen gab, für die und mit denen wir Werte wie Willkommenskultur und Integration gelebt haben. Das mag nicht ohne Schwierigkeiten gewesen sein – Amo war beliebt, er ist aber auch angefeindet worden.
2025 feiern die Universitäten Halle, Jena und Leipzig ein Jubiläum: 30 Jahre Mitteldeutscher Universitätsbund. Wie wichtig ist diese Partnerschaft?
Der Unibund ist wichtig, weil drei Universitäten gemeinsam stärker sind als jede für sich. Ich halte es für eine gute Idee, Kräfte zu bündeln und aus dem Guten etwas Besonderes zu machen. Der Unibund ermöglicht nicht nur ein hochschulübergreifendes Studium und die gegenseitige Anerkennung von Zertifikaten. Er schafft auch Raum für gemeinsame Forschung. Ein gutes Beispiel dafür ist das iDiv, das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung. Die vergangenen zehn Jahre wurde es von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, jetzt haben wir eine Finanzierung durch die drei Universitäten, die drei mitteldeutschen Länder und den Bund erreichen können. Damit können wir diese wichtige Forschung verstetigen, was ein großer Erfolg ist.
Zum Abschluss ein Satz für das Jahr 2025. Wie wird es für die MLU?
Es geht weiter voran und es wird hoffentlich exzellent.