Universität gedenkt Mojssej Woskin-Nahartabi

„Nicht seine wissenschaftlichen, nicht seine pädagogischen Verdienste, nicht das, was ihn als Lehrer, Kollegen, Mensch ausgezeichnet haben mag, war noch wichtig, nur sein Jüdischsein rückte in den Fokus“, so Rektorin Prof. Dr. Claudia Becker in ihrer Rede zum Gedenken an Mojssej Woskin-Nahartabi, der – wie 42 weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – von den Nationalsozialisten aus dem Dienst der Universität entlassen wurde. „Weil sie jüdisch waren. Weil sie unliebsam waren. Weil sie nicht ins politische Programm passten.“ Die Ehrung, die am Montagabend im Historischen Sessionssaal im Löwengebäude stattfand, knüpfte an das Gedenken an alle 43 zur Zeit des NS-Regimes entlassenen Dozenten an, das im November 2013 begangen worden ist.
„Als wir vor 13 Jahren begannen, ein Gedenken für die von der Universität Halle entlassenen Hochschullehrinnen und Hochschullehrer vorzubereiten, war Woskin-Nahartabi vollkommen unbekannt. Er war nirgendwo erwähnt worden“, so Prof. Dr. Friedemann Stengel, Leiter der Rektoratskommission zur Aufarbeitung der Universitätsgeschichte in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, der an diesem Abend das Leben und Wirken des Wissenschaftlers ausführlich beleuchtete. Zum Sommersemester 1918 immatrikulierte sich Woskin-Nahartabi, geboren in Nahartaw in der heutigen Ukraine, an der Vereinigten Friedrichs-Universität in Halle und studierte orientalische Philologie. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Neuhebräischen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, er war bis 1934 Lektor für Rabbinische Sprache und Literatur an der Universität und unterrichtete Hebräisch, Aramäisch, Mischna, Midrasch, Talmud, Kabbala und hebräische Literatur. 1934 wurde er aufgrund des sogenannten „Arierparagraphen“ als Jude aus dem Lehrkörper der Universität entlassen und emigrierte 1936 in die noch freie Tschechoslowakei. Im Sommer 1943 wurde er zusammen mit seiner Frau Fanja und der damals 16-jährigen Tochter Tamara in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Am 19. Oktober 1944 wurde die Familie in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet.
Im Rahmen des Gedenken 2013 wurde die erste Auflage des Buches „Ausgeschlossen“ veröffentlicht, das die Biografie Woskin-Nahartabis und der weiteren entlassenen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer erzählt und in vielen Bildern und Dokumenten greifbar macht. „Wir haben danach beschlossen, unveröffentlichte, verloren gegangene oder auch nur handschriftliche Schriften dieser Kolleginnen und Kollegen zu publizieren“, so Stengel. Dazu gehört jetzt auch Woskin-Nahartabis 1924 an der Friedrichs-Universität Halle entstandene Promotion „Die Entwicklung der hebräischen Sprache von ihrem literarischen Beginn bis zur Vollendung des wissenschaftlichen Stiles“. Diese existierte bislang nur in drei Exemplaren. „Wir legen dieses auf den ersten Blick schmale, aber in Wirklichkeit ausgesprochen aufwändig angefertigte Werk nun in Transkription vor. Woskins Werk ist nun digitalisiert und gedruckt.“ Publiziert wird es im Universitätsverlag. „Mit der Publikation von Mojssej Woskin-Nahartabi würdigen und gedenken wir des Menschen“, so Stengel.
Anschließend verdeutlichte Jens Kotjatko-Reeb, Hebräisch-Lektor an der MLU, noch einmal die Bedeutung Woskin-Nahartabis für sein Fach. „Seine vor 101 Jahren eingereichte Promotion zeugt von seinen herausragenden Kenntnissen des Hebräischen in all seinen Entwicklungen.“ Ein Wissen, das auch von seinen Lehrern, Kollegen und Schülern gern in Anspruch genommen worden sei. Weiter verwies er auf Woskins literarischen Schreibstil, der „die Beschreibung der sprachlichen Entwicklung des Hebräischen beinah poetisch erscheinen lässt“.
Auch Nachfahren von Woskin-Nahartabi waren vor Ort: Nadia Vergne-Mittelmann und Leo Azimov. Azimov hielt eine kurze Rede auf Deutsch – als Nicht-Muttersprachler: weil Deutsch für Woskin damals zu seiner neuen Muttersprache und Deutschland zu seiner neuen Heimat geworden sei. Er dankte allen Beteiligten für ihre Arbeit zum Werk Woskins und betonte, dass Wissenschaft keine Staatsgrenzen habe und keinen Pass brauche und dass es Worte seien, die die Erinnerung an einen Menschen erhielten.
Zum Buch
Mojssej Woskin-Nahartabi: Die Entwicklung der hebräischen Sprache. Von ihrem literarischen Beginn bis zur Vollendung des wissenschaftlichen Stiles . Halle 2025, 165 Seiten, 49,8 Euro, ISBN: 978-3-86977-286-8
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