Was ist gerecht?

25.02.2020 von Ronja Münch in Wissenschaft
Vom 5. bis zum 8. März findet an der Uni der fünfte Kongress Polenforschung statt. Die 2009 vom Deutschen Polen-Institut ins Leben gerufene Veranstaltung wird erstmals vom Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien organisiert. Im Interview erklärt die Historikerin Prof. Dr. Yvonne Kleinmann, was das Rahmenthema „Gerechtigkeit“ mit Halle zu tun hat und was die Veranstaltung über die Entwicklung der hiesigen Polenforschung aussagt.
Yvonne Kleinmann
Yvonne Kleinmann (Foto: Markus Scholz)

Was bedeutet es für die Uni, dass der Kongress Polenforschung erstmals hier stattfindet?
Prof. Dr. Yvonne Kleinmann: Wir signalisieren damit, dass Halle in der Polenforschung ein Zentrum ist. Mein Vorgänger Prof. Dr. Michael Müller hat dafür gesorgt, dass hier stärker polnische und ostmitteleuropäische Geschichte behandelt wird – im Gegensatz zu vielen Osteuropa-Professuren, in denen Russland, die Sowjetunion und die post-sowjetische Gesellschaft im Mittelpunkt stehen. Der Schwerpunkt besteht also im Grunde seit zwanzig Jahren. Er ist durch die Gründung des Aleksander-Brückner-Zentrums zusammen mit der Universität Jena 2012 noch stärker in den Vordergrund getreten. Dass der Kongress Polenforschung jetzt in Halle stattfindet, ist eine Reaktion der Kolleginnen und Kollegen in Deutschland, die uns wahrnehmen. Das profiliert die MLU in diesem Bereich und macht unsere Arbeit sichtbar.

Wie wichtig ist der Kongress auch international?
Er ist 2009 als ein deutsch-polnisches Projekt gestartet. Man muss schon sagen, dass international gesehen die Beschäftigung mit Polen in der historischen genauso wie in der gegenwärtigen Dimension in Deutschland am stärksten ist. Das hängt mit der konfliktreichen Geschichte zusammen, insbesondere dem 19. Jahrhundert und dem Zweiten Weltkrieg. Polen wird durch den Beitritt zur EU 2004 allerdings ganz anders interessant und erhält deshalb für die Untersuchung europäischer Gesellschaft – egal ob historisch, kultur- oder politikwissenschaftlich – eine größere Bedeutung. Wir versuchen, die Europäisierung und Internationalisierung mit diesem Kongress noch mal stärker voranzutreiben. Weil die jüngeren polnischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stärker englischsprachig orientiert sind, wird es eine ganze Reihe von Vorträgen und Panels auf Englisch geben. Außerdem haben wir gezielt Kollegen aus Großbritannien, den USA und Israel eingeladen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass der Kongress in nicht allzu ferner Zukunft komplett auf Englisch stattfindet.

Sie haben für den Kongress das Thema Gerechtigkeit gewählt. Was hat das mit dem Aleksander-Brückner-Zentrum zu tun?
Wir haben diesen Vorschlag für das Rahmenthema gemacht, weil wir uns hier an der MLU viel mit interdisziplinärer Rechtsforschung und Wahrnehmungen von Gerechtigkeit beschäftigen. Wir haben uns schon vor zwei Jahren auf der Konferenz „Law, Legal Language, and Ideas of Justice in Poland“ in epochenübergreifender Perspektive, vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, mit der Frage von Recht und Gerechtigkeit in Polen beschäftigt. Uns interessiert zum Beispiel, wie Recht entsteht, wer daran beteiligt ist, wie das in der Praxis umgesetzt wird, und – in Verbindung zum Kongressthema Gerechtigkeit – ob eigentlich dieses normative Recht den Gerechtigkeitsvorstellungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen entspricht.

Und wie wird das Thema „Gerechtigkeit“ im Kongress behandelt?
Auf dem ganzen Kongress wird es um die Wahrnehmungsebene gehen, das heißt, um Gerechtigkeit als subjektive Kategorie, um den Streit darüber, was überhaupt gerecht ist. Nach Möglichkeit sind die verschiedenen Panels interdisziplinär zusammengesetzt, so dass Sprachwissenschaftler mit Historikern oder Literaturwissenschaftlern ins Gespräch kommen. Da geht es zum Beispiel um die Dimension historischer Verantwortung und die Frage, wie sich polnische Richter nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der NS-Verbrechen im besetzten Polen verhalten haben. In einem anderen Panel behandelt eine Studentin von uns Gender-Gerechtigkeit und feministische Kritik. Das sind Themen, die in den vergangenen Jahren eine große Rolle spielen. Ein weiterer, wie ich finde, sehr origineller Beitrag beschäftigt sich mit den „Gerechten unter den Völkern“. In der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gibt es Gedenktafeln für Nicht-Juden in den verschiedenen Ländern Europas, die Juden unter Einsatz des eigenen Lebens gerettet haben. Die Frage, wie repräsentativ die „Gerechten“ für die polnische Gesellschaft gewesen sind, wird heute in Polen kontrovers debattiert. Außerdem ist sprachliche Gerechtigkeit auf dem Kongress ein Thema. Polen wird gegenwärtig durch eine recht starke ukrainische Einwanderung wieder „ostslawischer“. Historisch war es ebenso ostslawisch wie jüdisch und deutsch geprägt. Da geht es immer wieder um die Frage: Welche Sprache hat welchen Status? Fühlen sich Gruppen repräsentiert, dürfen sie ihre eigene Sprache in der Öffentlichkeit sprechen?

Kongress und Ausstellung

Anlässlich des Kongresses zeigt die Zentrale Kustodie eine Ausstellung von Tomasz Lewandowski mit aktuellen Fotografien aus Polen. Neben Motiven, durch die der Fotograf postsozialistische Realitäten zu ironisieren scheint, hängen ernste, symbolhafte Bilder, die von gesellschaftlichen Verwerfungen der Transformationszeit seit 1989 erzählen. Tomasz Lewandowski wurde 1978 im polnischen Nysa (Neiße) geboren. Seit mehr als zehn Jahren lebt und arbeitet er in Deutschland. In Halle studierte er Fotografie an der Burg Giebichenstein.

5. Kongress Polenforschung, Rahmenthema "Gerechtigkeit":
5. bis 8. März 2020
Melanchthonianum/Löwengebäude
Universitätsplatz 9 und 11, 06108 Halle (Saale)
Weitere Informationen unter: www.polenforschung.de

Ausstellung "Polish Summer. Fotografien von Tomasz Lewandowski"
5. März bis 7. Juni 2020
Vernissage: Mittwoch, 4. März 2020, 18 Uhr
Löwengebäude, Universitätsplatz 11, 06108 Halle (Saale)
Öffnungszeiten: jeweils Dienstag bis Freitag und sonntags 13 bis 18 Uhr,
geschlossen vom 1. bis 4. Mai 2020 und vom 21. bis 25. Mai

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