Forschung zum Anthropozän: Wie Ethnologie Gerechtigkeitskonflikte sichtbar macht

16.12.2025 von Susann Trapp in Wissenschaft, Forschung
Der Mensch verändert den Planeten – und wirft damit neue Gerechtigkeitsfragen auf. Der Ethnologe Prof. Dr. Olaf Zenker erklärt im Interview, welche Einsichten die Ethnologie liefern kann.
Der Crawford Lake in Kanada gilt als Referenzort für das Anthropozän. In seinen jährlichen Sedimentschichten haben sich Spuren menschlicher Eingriffe wie Industrieemissionen, Stickstoff aus der Landwirtschaft und radioaktives Plutonium aus Atomtests seit Mitte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben.
Der Crawford Lake in Kanada gilt als Referenzort für das Anthropozän. In seinen jährlichen Sedimentschichten haben sich Spuren menschlicher Eingriffe wie Industrieemissionen, Stickstoff aus der Landwirtschaft und radioaktives Plutonium aus Atomtests seit Mitte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben. (Foto: picture alliance / empics | Cole Burston)

Sie arbeiten zum Thema „Gerechtigkeit im Anthropozän“, also die Gerechtigkeit im Erdzeitalter der Menschen. Was meinen Sie damit? 
Olaf Zenker: Damit meinen wir die Frage: Wie kann Gerechtigkeit aussehen in einer Zeit, in der der Mensch tief in die Ökosysteme des Planeten eingreift – und zugleich selbst von den Folgen dieser Eingriffe betroffen ist. Gerechtigkeit wird zu einem zentralen Thema mit weltweit ungleichen Folgen und Verantwortlichkeiten. Dabei zeigt sich, dass Gerechtigkeit nicht nur Menschen betrifft, sondern auch Tiere, Pflanzen, Landschaften und technische Infrastrukturen. Wir brauchen eine präzise Vorstellung davon, wer Verantwortung übernehmen kann, um Gerechtigkeit über menschliche Interessen hinaus ernst zu nehmen. Gleichzeitig macht der Begriff deutlich, dass diese Veränderungen nicht von „der Menschheit“ als Ganzes verursacht werden, sondern von sehr unterschiedlichen Gruppen, Akteuren und politischen Entscheidungen. Genau diese Ungleichheiten führen zu zentralen Gerechtigkeitsfragen.

Olaf Zenker
Olaf Zenker (Foto: Maike Glöckner)

Sie haben dazu auch ein Sonderheft publiziert. 
Ja, gemeinsam mit meiner Mitarbeiterin Dr. Anna-Lena Wolf habe ich ein Sonderheft der Zeitschrift für Ethnologie zu eben diesem Thema „Gerechtigkeit im Anthropozän“ herausgegeben. Darin plädieren wir für einen „anthropological turn“, der menschliches Handeln, Entscheiden und Verantworten ins Zentrum stellt – nicht im Sinne eines alten Anthropozentrismus, sondern als Voraussetzung für realistische und gerechte Lösungen in einer von Krisen geprägten Welt. Das macht unseren Ansatz sowohl theoretisch innovativ als auch politisch relevant.

Der Begriff Anthropozän ist nicht in allen Disziplinen anerkannt. In der Ethnologie bezeichnet er einen grundlegenden Wandel. Warum haben Sie ihn gewählt?
Unabhängig davon, dass der Begriff von internationalen geologischen Gremien nicht anerkannt wurde, hat er sich in den Sozial- und Geisteswissenschaften zu einem mächtigen analytischen Konzept entwickelt. Es beschreibt präzise, wie stark der Mensch inzwischen die Erdsysteme verändert: Klima, Biodiversität, Atmosphäre, Böden, Meere – nichts bleibt unbeeinflusst. Das Anthropozän verstehen wir daher als Aufforderung, die Verflechtungen von Umwelt, Gesellschaft und Macht global und historisch neu zu denken.

Kann ethnologische Forschung neue Perspektiven auf Probleme wie den Klimawandel oder soziale Ungleichheiten geben?
Absolut. Die Ethnologie macht Zusammenhänge sichtbar, die in vielen Disziplinen eher getrennt behandelt werden: ökologische Transformation, politische Konflikte, soziale Ungleichheiten und moralische Erwartungen. Klimawandel wird so nicht nur als physikalisches oder technisches Problem sichtbar, sondern auch als komplexes Gerechtigkeitsproblem, das verschiedene Gruppen unterschiedlich trifft. Mit unserem Ansatz können wir präzise herausarbeiten, wer in solchen Konflikten als Akteur, als Betroffener oder als Verantwortlicher wahrgenommen wird – und warum.

Was ist der ethnologische Ansatz genau? 
Die Ethnologie hat mit ihrer qualitativen und langfristigen Feldforschung eine einzigartige methodische Stärke. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung erlaubt es, tief in die Lebenswelten der Menschen einzutauchen. Gerade bei Themen wie Klimawandel und sozialer Transformation ist dieses Wissen unverzichtbar: Politische Maßnahmen scheitern oft nicht an fehlenden technischen Lösungen, sondern daran, dass sie an den Lebensrealitäten und Perspektiven der Menschen vorbeigehen. Ethnologische Forschung macht diese Perspektiven sichtbar, indem sie Analyse mit gelebtem Dialog verbindet. Damit trägt sie dazu bei, gesellschaftliche Transformationsprozesse sozial verträglicher, partizipativer und gerechter zu gestalten. 

Durch den Kohleausstieg erlebt Sachsen-Anhalt einen tiefgreifenden Wandel. Wie lassen sich ethnologische Erkenntnisse konkret nutzen, um diesen Prozess gerechter zu gestalten?
Der Strukturwandel in Sachsen-Anhalt zeigt exemplarisch, wie eng ökologische Transformation und soziale Gerechtigkeitsfragen verflochten sind. Genau hier setzt die ethnologische Forschung an. Wenn wir mit Menschen in den betroffenen Regionen langfristig im Gespräch bleiben – in ihren Dörfern, Vereinen, Betrieben, Familien –, dann erfahren wir sehr genau, wie Menschen die Veränderungen in ihrem Alltag erleben: Welche Verluste sie durch den Kohleausstieg befürchten, welche Chancen sie sehen, wem sie Vertrauen schenken oder wo sie Ungerechtigkeit empfinden. Dieses Wissen ist eine notwendige Grundlage, um politische Entscheidungen sozialverträglich auszurichten und Konflikte frühzeitig zu erkennen. Gleichzeitig wirkt ethnologische Forschung nicht nur durch ihre Ergebnisse, sondern auch durch ihre Forschungspraxis selbst: Es geht darum, nicht nur über Menschen zu schreiben, sondern ihre Perspektiven wirklich ernst zu nehmen und mit ihnen im Gespräch zu bleiben. Damit trägt unsere Forschungspraxis selbst auch zu dem gesellschaftlichen Zusammenhalt bei, der für eine „just transition“ so wichtig ist.

Schlagwörter

Ethnologie

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