Jüdisches Leben in Deutschland: Bilder, die nachwirken

Eine Rabbinerfamilie mit ihrem Neugeborenen, ein jüdischer Kantor beim Fußballspiel, ein Frankfurter Rabbiner bei der Feier des jüdischen Neujahrsfestes Rosch Haschana: Es sind Momente jüdischen Lebens, die Holger Biermann, Rafael Herlich und Benyamin Reich in den Jahren von 2000 bis 2015 aufgenommen haben. Momentaufnahmen, die zahlreiche Facetten zeigen; die beliebte Party des jüdischen Sportverbandes Makkabi ebenso wie den jüdischen Bundeswehrsoldaten, aber auch Kinder, die ein Hakenkreuz in Beton ritzen. Zum ersten Mal zu sehen war die Leih-Ausstellung der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 2015 und 2016 in Bonn, bis zum 1. Juni wird sie nun im Sonderausstellungsraum im Löwengebäude gezeigt. Am Dienstagabend wurde sie feierlich eröffnet.
„Wir leben in sehr turbulenten Zeiten“, sagte Rektorin Prof. Dr. Claudia Becker während der Vernissage. „Sicher geglaubte Stabilität wird mit Füßen getreten, mit einem Federstrich ins Wanken gebracht, mit Bomben zerstört.“ Wahlergebnisse zeigten einen offenbar starken Wunsch nach Abschottung von allem fremd Empfundenen. Was das mit Wissenschaft zu tun habe? Viel, so die Rektorin – schon, weil diese ein ganz anderes Verständnis habe, ein Selbstverständnis von Austausch und Weltoffenheit. Wissenschaft dürfe sich nicht nur in der eigenen Blase aufhalten, sondern müsse in die Gesellschaft gehen. Das könne sie auf vielfältige Weise, so Becker. Zum Beispiel durch Forschung mit der Gesellschaft – die Rektorin nannte unter anderem das Strukturwandel-Projekt „European Center of Just Transition Research and Impact-Driven Transfer“ –, aber auch durch kulturelle Angebote, die den Blick auf die Gesellschaft weiten. Angebote wie die Ausstellung „Schalom. Drei Fotografen sehen Deutschland“. Sie selbst habe im Vorfeld die Gelegenheit gehabt, die Ausstellung zu sehen. „Ich habe gemerkt, wie die Bilder in mir nachgewirkt haben“, so Becker. Die Ausstellung zeige, was das jüdische Leben im Alltag spezifisch macht – „oder eben ganz einfach so normal wie unser aller Leben auch“. Sie zeige zudem, dass die Lebensrealität von Jüdinnen und Juden auch Bedrohungen und Antisemitismus enthält.
Wie selbstverständlich ist jüdisches Leben in Deutschland 80 Jahre nach dem Holocaust? Zur Auseinandersetzung mit dieser Frage sollen die Fotografien einladen. Seine spontane Reaktion sei gewesen: „Jüdisches Leben gehört selbstverständlich zu Deutschland“, sagte Prof. Dr. Ottfried Fraisse vom Seminar für Judaistik/Jüdische Studien der MLU. Er sprach von der Postdoktorandin aus Tel Aviv, die Halle liebt, von den jüdischen Studierenden im Seminar, der Zusammenarbeit mit der jüdischen Kollegin in Leipzig und der Freude über die Normalität all dieser Begegnungen. Nach diesem ersten emotionalen Impuls melde sich aber der Kopf, so der Wissenschaftler. 30 Prozent der Deutschen seien latent antisemitisch, jüdische Einrichtungen seien mit Kameras ausgestattet und müssten von der Polizei bewacht werden, es gebe Antisemitismusbeauftragte in nahezu allen Bundesländern. Fraisse erinnerte auch an den Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019.
Die Fotografien in der Ausstellung sorgten dafür, „dass wir die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland real erleben können“, so Fraisse. Er sprach zur Ausstellungseröffnung auch über jüdische Lokalgeschichte in Halle. Leicht lasse sich ein erdrückendes historisches Narrativ vom Leid der Jüdinnen und Juden zeichnen, aber ebenso ein Narrativ eines erblühenden jüdischen Lebens. Der Experte zählte eine Reihe von Fakten auf, von der ersten jüdischen Ansiedlung in Halle 1185 und einer „Kette von Katastrophen“ ab 1206 bis hin zur Bücherverbrennung auf dem Universitätsplatz 1933, der Zerstörung der Synagoge 1938 und der Deportation von Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager. Er berichtete zugleich vom ersten jüdischen Studenten an der Universität Halle 1695, von einer Verfünffachung der Zahl jüdischer Einwohner zwischen 1825 und 1864, dem Bau einer neuen Synagoge 1953 und den 700 Mitgliedern, die die jüdische Gemeinde heute zähle. „Diese beiden Narrative scheinen schwer miteinander vereinbar“, sagte er. Es bedürfe ständiger Anstrengungen, sie so aufeinander zu beziehen, dass sie sich nicht gegenseitig ausschließen. In Halle gebe es zahlreiche Beispiele und Initiativen, die Räume der Begegnung schaffen und das Ziel haben, eine emotional erfahrbare Gegenwart jüdischen Lebens schaffen – ein Anliegen, das auch die Ausstellung verfolge.
Ausstellung "Schalom. Drei Fotografen sehen Deutschland"
Löwengebäude, 1. OG, Sonderausstellungsraum
Universitätsplatz 11, 06108 Halle (Saale)
Öffnungszeiten bis 1. Juni 2025: Mittwoch bis Sonntag, 13 bis 18 Uhr
Eintritt frei