„Die Menschen kämpfen noch immer mit dem Erbe von Ebola“

13.11.2018 von Tom Leonhardt in Wissenschaft, Forschung
In Afrika gab es in den vergangenen Jahren mehrere Ebola-Ausbrüche. Über 11.200 Menschen starben an den Folgen des Virus in Westafrika. Welche Konsequenzen die Epidemien und der Umgang damit für das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Regierungen und in das Gesundheitssystem haben, erforschen Ethnologen aus Halle und Bayreuth in einem gemeinsamen Forschungsprojekt. Im Interview mit „campus halensis“ berichten Dr. Grace Akello und Dr. Sung-Joon Park über die ersten Ergebnisse.
Grace Akello und Sung-Joon Park (re.) berichten im Interview von Ergebnissen ihres Forschungsprojektes.
Grace Akello und Sung-Joon Park (re.) berichten im Interview von Ergebnissen ihres Forschungsprojektes. (Foto: Maike Glöckner)

Im Rahmen Ihrer Forschungsarbeit waren Sie vor allem in Uganda und Sierra Leone. Sind die Epidemien dort vorüber?
Sung-Joon Park: Ein Land gilt als Ebola-frei, wenn 42 Tage lang keine Neuerkrankungen gemeldet werden. Es folgt eine 90-tägige Periode erhöhter Sicherheitsmaßnahmen. Diese kann unterschiedlich umgesetzt werden. Danach geht man davon aus, dass der Katastrophenfall beendet ist. Ob der Virus erneut ausbrechen kann, kann man schwer vorhersagen. Das sind aber eher epidemiologische Definitionen einer Ebola-Epidemie, die wir in der ersten Phase des Projektes nicht untersuchen.

Grace Akello: Ob Ebola vorbei ist? Jein. Die Epidemie ist vielleicht für beendet erklärt worden, weil keine neuen Fälle bekannt werden. Die Menschen haben aber immer noch mit dem Erbe von Ebola zu kämpfen: Dazu gehört vor allem die Angst vor der Krankheit und ihren Folgen für das gesellschaftliche System. Viele haben das Vertrauen in die Regierung und staatliche Autoritäten verloren, weil diese während der Ausbrüche erkrankte Menschen einfach weggesperrt haben. So konnte sich zwar die Krankheit nicht weiter ausbreiten, aber die Patienten konnten auch nicht in Krankenhäuser gebracht und behandelt werden. Insofern ist der Ausbruch noch nicht vorbei: Es gibt noch immer diese historische Dimension, die Erfahrungen und Geschichten der Menschen darüber.

In einigen Regionen wurden schnell Ebola Treatment Units für die Isolation und Behandlung von Erkrankten eingerichtet.
In einigen Regionen wurden schnell Ebola Treatment Units für die Isolation und Behandlung von Erkrankten eingerichtet. (Foto: Sung-Joon Park)

Kranke Menschen wurden weggesperrt?
Akello: Ja, es gab verschiedene Quarantäne-Maßnahmen. Kranke wurden unter Quarantäne gestellt, es gab aber auch die sogenannte präventive Quarantäne: Bestimmte Menschen, die ein hohes Infektionsrisiko – aber keine Diagnose – hatten, wurden prophylaktisch in bestimmten Gebieten oder Krankenhäusern untergebracht und durften diese nicht mehr verlassen.

Park: Bei dem Ebola-Ausbruch in Westafrika wurden die Mobilität in den Städten und einzelnen Distrikten radikal eingeschränkt, Ausgangssperren verordnet und Zuwiderhandlungen mit Geldstrafen geahndet. Diese sogenannte Militarisierung der Intervention wirft schwerwiegende ethische Fragen nach der Verhältnismäßigkeit auf, insbesondere wenn der Erfolg derartiger Maßnahmen nicht gesichert ist. Die Epidemie hat 11.000 Menschleben gekostet. Bei dieser drastischen Intervention waren aber nicht nur Regierungen oder das Militär beteiligt. In Sierra Leone waren zum Beispiel auch religiöse Anführer und sogenannte „paramount chiefs“ für die Durchsetzung von Notstandsgesetzen zuständig.

Natürlich ging es darum, die Bevölkerung zu schützen, aber die Folgen konnten für einzelne Personen verheerend sein: Manche mussten mehrere Wochen in Isolation leben oder waren während der Isolation von der Nahrungsmittelversorgung abhängig, die zeitweise zusammenbrach. Und selbst wenn man in ein Krankenhaus oder eine Ebola Treatment Unit (ETU), ein spezielles Behandlungszentrum für Ebola, eingewiesen wurde – diese Zeit war von einer existenziellen Isolation geprägt. Die Sterberate lag zeitweise bei 90 Prozent, bis sie durch eine bessere Behandlung auf 60 Prozent heruntergebracht wurde. Wenn man für Tage nur von kranken und sterbenden Menschen umgeben ist, kann das einen extrem traumatisierenden Effekt haben.

Diese Erfahrungen haben das Vertrauen in das Gesundheitssystem und die Medizin gestört. Das Vertrauen der Menschen ist auch Ihr Forschungsthema. Wie erforscht man das?
Park: Man kann die Menschen nicht direkt fragen: Vertraut ihr der Regierung oder dem Gesundheitssystem? Wir untersuchen stattdessen die Interaktionen zwischen dem ärztlichen oder dem Pflegepersonal und seinen Patienten. Wir analysieren auch die Arbeitsbedingungen der Helfer und befragen Angehörige von Ebola-Kranken. Auch die soziale Verantwortung der Obrigkeiten haben wir uns angeschaut, weil davon abhängt, ob die Bevölkerung offiziellen Vertretern vertraut oder nicht. Diese verschiedenen Aspekte erzählen uns eine Menge darüber, wie Vertrauen auf der moralischen und emotionalen Ebene funktioniert, wem man vertraut und wann man sich auf andere verlässt.

Welche Rolle spielten das Gesundheitssystem und die -versorgung während der Epidemien?
Akello: Das Gesundheitssystem war sehr wichtig. Schließlich mussten infizierte Menschen behandelt werden. Auch die „public health awareness teams“ haben eine wichtige Rolle gespielt. Das waren Gruppen, die gezielt in Risikogebiete reisten und die Bevölkerung vor Ort über die Krankheit informierten. In Uganda entwickelte sich der Vertrauensverlust erst, als die Menschen für mehrere Wochen in einem Krankenhaus bleiben mussten, obwohl sie kein Ebola hatten – das war Teil der präventiven Quarantäne.

Park: Gleichzeitig verfügten nicht alle Regionen über eine entsprechende Ausstattung, um schnell auf Ebola-Ausbrüche zu reagieren. Staatliche Krankenhäuser sind generell schlechter aufgestellt als private. Letztere haben deshalb auch einen besseren Ruf. Im Norden Ugandas gab es während der Epidemie im Grunde nur zwei Krankenhäuser. Vor zehn Jahren bestand das staatliche nur aus einem Gebäude. Wenn es um Vertrauen geht, geht es auch immer um spezielle Orte und Menschen – Ärzte, die man kennt oder die fremd sind.

Akello: Einige unserer Informanten sagten uns auch: Mir wurde zwar gesagt, ich soll in das Krankenhaus gehen, aber ich weiß, wie es dort aussieht … Den Menschen fällt es schwer, diesen Einrichtungen in einer kritischen Zeit zu vertrauen. Das war einer der Gründe, weshalb die ETUs eingerichtet wurden. Diese haben in Westafrika sehr geholfen.

Wie war die Situation für die Angehörigen von Ebola-Kranken?
Akello: Viele haben die allgemeinen Anweisungen und Hinweise schlichtweg ignoriert. So war zum Beispiel der direkte Körperkontakt mit Kranken verboten. Und trotzdem haben wir in Uganda mit Menschen gesprochen, die ihre Angehörigen auf Händen in ein Krankenhaus getragen haben. Wir wollten wissen, warum sie sich bewusst dazu entschieden haben, die Regeln zu ignorieren. Aus den Antworten haben wir den Begriff „oughtness of care“ geprägt: Die Menschen mussten so reagieren, weil sich sonst niemand um ihre Angehörigen gekümmert hätte – und sie sich ihnen gegenüber ethisch verpflichtet gefühlt haben.

Park: Bei dem Begriff handelt es sich nicht um einen moralischen Imperativ, der eine bestimmte Handlung vorgibt. Vielmehr geht es dabei um ein moralisches Gefühl und einen affektiven Handlungszwang. Er verlangt von den Angehörigen, Ängste um die eigene Gesundheit zu unterdrücken, mit enormem Stress umzugehen und bewusst eine Ansteckung in Kauf zu nehmen. Diese Form der Sorge gibt uns kritische Einblicke in ethische Fragen und Dilemmata in Situationen, in denen die Grenzen zwischen „richtig“ und „falsch“ verschwimmen. Dies hat auch wichtige Konsequenzen für die Herstellung von Vertrauen: Die Behandlung von Ebola-Patienten muss für die Angehörigen ethisch akzeptabel sein. Sie muss als eine genuine Alternative in einer alternativlosen Situation wahrgenommen werden. Ansonsten werden die Menschen Anweisungen ignorieren – aus sehr nachvollziehbaren Gründen.

Was könnten neue Ansätze sein?
Akello: Es würde den Menschen schon einfach helfen, wenn sie Schutzanzüge und Handschuhe bekämen. So könnten sie besser reagieren und man könnte ihr Bewusstsein für die Situation verbessern: Sie würden sich weiter um ihre Angehörigen kümmern, aber sich auch selbst schützen.

In Ihrer Forschung haben Sie auch festgestellt: Selbst das Pflegepersonal hat das Vertrauen in die eigene Arbeit verloren. Warum?
Akello: Sie sind vom Ergebnis ihrer Arbeit frustriert. Medizinstudenten haben mir von Patienten berichtet, bei denen sie sicher waren: Diese hätten überleben können, wenn das Personal über das entsprechende Equipment verfügt hätte.

Während der Epidemien gab es auch sehr viele ehrenamtliche Helfer, die sich um die Kranken gekümmert haben. Wie haben diese den Ausbruch erlebt?
Park: Epidemien oder Katastrophen im Allgemeinen sorgen immer für einen gewissen Enthusiasmus in der Bevölkerung: Die Menschen wollen anderen Menschen helfen und Leben retten. Gerade im Fall von Ebola-Ausbrüchen sind diese vielen Menschen auch nötig, denn die Arbeit ist sehr anstrengend. Allerdings wird diese ehrenamtliche Arbeit nicht immer entsprechend wertgeschätzt. Besonders diejenigen, die an vorderster Front gegen Ebola gekämpft haben, wurden häufig nicht so behandelt, wie sie es erwartet hätten – sie vermissen sowohl finanzielle als auch gesellschaftliche Anerkennung. Deshalb verlieren viele der freiwilligen Helfer das Vertrauen in die Einrichtungen und werden sich möglicherweise bei einer neuen Epidemie nicht wieder engagieren.

Akello: Das Problem ist, dass diese Arbeit eigentlich unsichtbar ist: Im Westen gab es zum Beispiel Menschen, die Kranke in Kliniken gebracht haben, oder sogenannte „burial boys“, die beim Transport der Toten halfen und die unzähligen Gräber geschaufelt haben. Sie haben umgangssprachlich gesprochen die „Drecksarbeit“ gemacht. Dabei handelt es sich um enorm wichtige Aufgaben, ohne die das gesamte System zum Erliegen kommt. Dennoch wird die Arbeit dieser Helfer kaum berücksichtigt, sie erhalten kaum Anerkennung.

Sondern?
Park: Das Gegenteil ist der Fall: Die Menschen, die während der Epidemie anderen geholfen haben, werden stigmatisiert. Aushilfs-Krankenschwestern berichteten uns, dass sie Probleme hätten, wieder einen regulären Job zu finden.

Akello: Dadurch entsteht bei den Helfern die Botschaft: Ihr habt euren Job getan, wir brauchen euch jetzt nicht mehr. Das ist respektlos und verletzend.

Massenfriedhöfe wie dieser in Waterloo (Sierra Leone) mit geschätzt 7000 Gräbern zeigen das Ausmaß der Epidemie und ihrer Folgen.
Massenfriedhöfe wie dieser in Waterloo (Sierra Leone) mit geschätzt 7000 Gräbern zeigen das Ausmaß der Epidemie und ihrer Folgen. (Foto: Sung-Joon Park)

Was meinen Sie mit dem „Erbe von Ebola“, das Sie gerade erwähnten?
Akello: Das sind die langfristigen Folgen, die ich bereits ansprach. Einerseits geht es darum, dass die Menschen nicht wissen, wie sie ihrer Verstorbenen gedenken sollen, weil diese in Massengräbern beerdigt wurden. Das spielt in Afrika aber eine sehr wichtige Rolle. In Krankenhäusern gibt es immer noch die Angst vor dem nächsten Ausbruch. Viele Schwestern und Ärzte haben uns gesagt: Wir müssen uns auf die nächste Epidemie vorbereiten, wir sind es aber nicht. Weil sie wissen, was passieren kann, haben sie noch mehr Angst vor dem Virus. Das alles muss ausgehandelt und verarbeitet werden. Wie lange es dauern wird, weiß ich nicht.

Was bedeutet all das für künftige Ausbrüche?
Park: Man muss auch verstehen, dass das medizinische Personal in einem desolaten System arbeitet. Es geht dabei nicht nur um eine bessere Infrastruktur. Das Personal muss gut ausgebildet sein, eine angemessene Bezahlung erhalten – und die Arbeit muss in einem gewissen Maße auch befriedigend sein. In ressourcenarmen Ländern ist das natürlich nicht so einfach. Aber es geht eben nicht nur um Geld, sondern auch um Bürokratie: Bis man in Sierra Leone oder Uganda als Krankenpfleger oder Krankenschwester arbeiten darf, ist es ein sehr aufwendiger Prozess. Deshalb gibt es auch eine Vielzahl an informellen Mechanismen, um ein Krankenhaus mit dem notwendigen Personal zu füllen. Derartige Mechanismen schließen aber nicht die systemischen Lücken eines Gesundheitssystems, die während einer Epidemie zu Tage kommen.

Sollten sich internationale Hilfsorganisationen mehr auf diese Aspekte konzentrieren?
Park: Ich hätte kein gutes Gefühl dabei, wenn wir sagen würden, das eine muss durch das andere ersetzt werden. Viele Lösungen in den Ländern waren improvisiert, aber sie haben funktioniert. Auf diese kann man nicht verzichten. Im Ernstfall braucht es dann natürlich trotzdem eine gezielte Unterstützung, vor allem durch die internationale Gemeinschaft. Aber nach dem akuten Einsatz ziehen sich diese Hilfsorganisationen zurück – und die zugrundeliegenden Probleme bleiben bestehen.

Akello: Deshalb wäre es besser, existierende Strukturen zu stärken. Dabei geht es auch um ein gewisses Augenmaß für die jeweiligen Bedürfnisse. Für 100 Menschen brauchen wir keine Krankenhäuser nach deutschen Standards. Aber vielleicht wäre ein moderneres Labor sinnvoll. Es sind kleine Dinge für die jeweiligen Regionen, die lokal angeschoben werden müssen – nicht auf nationaler Ebene.

Das Projekt

Das Forschungsprojekt der Ethnologen findet im Rahmen des Schwerpunktprogrammes „Deutsch-afrikanische Kooperationsprojekte in der Infektiologie“ statt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Dr. Sung-Joon Park ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Ethnologie der MLU, Dr. Grace Akello forscht an der Gulu University in Uganda.

Studien:

Park, S.J., and G. Akello. 2017. "The oughtness of care: Fear, stress, and caregiving during the 2000-2001 Ebola outbreak in Gulu, Uganda."  Social Science & Medicine 194:60-66.

Park, Sung-Joon. 2017. "‘They overworked us’: Humiliation and claims to recognition of volunteer nurses in the aftermath of the Ebola epidemic in Sierra Leone."  Medicine Anthropology Theory 4 (3).

Schlagwörter

Ethnologie

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