Briefe vom streitbaren Geist

23.04.2018 von Ines Godazgar in Wissenschaft, Forschung
Kaum ein anderer Name ist so eng mit der deutschen Frühaufklärung verbunden wie der von Christian Thomasius. Das Werk des einstigen halleschen Professors wurde in der Vergangenheit bereits umfangreich wissenschaftlich aufgearbeitet. Jetzt ist der erste Band seines Briefwechsels erschienen. Darin zeigt sich: Erst durch die Erschließung dieser Quellen werden Welt und Wesen des streitbaren Juristen plastisch.
Für ihr Projekt nutzen Dr. Martin Kühnel, Projektleiter Dr. Frank Grunert, Dr. Matthias Hambrock sowie Dr. Andrea Thiele (v.l.) Quellen, die zuvor aus Archiven und Bibliotheken zusammengetragen wurden.
Für ihr Projekt nutzen Dr. Martin Kühnel, Projektleiter Dr. Frank Grunert, Dr. Matthias Hambrock sowie Dr. Andrea Thiele (v.l.) Quellen, die zuvor aus Archiven und Bibliotheken zusammengetragen wurden. (Foto: Michael Deutsch)

Würde man an den Briefeschreiber Christian Thomasius die Maßstäbe guter Korrespondenz anlegen, hätte man für ihn wohl eher wenig schmeichelhaftes Vokabular parat: Ganz im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Gottfried Wilhelm Leibniz, der das Formulieren von Briefen als festen Bestandteil seines Schaffens begriff, war diese Tätigkeit dem einflussreichen Intellektuellen Thomasius oft lästig. Entsprechend nachlässig war er bei der Beantwortung und auch bei der Archivierung seiner Korrespondenz. Und so kam es, dass sich seine Briefpartner bisweilen über zu spät erhaltene oder gänzlich fehlende Antworten beklagten.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Tatsache durchaus erstaunlich, dass nun an der MLU der erste von vier Bänden mit Briefen des Gelehrten vorgelegt wurde. Er umfasst die Korrespondenz, die Thomasius zwischen den Jahren 1679 und 1692 geschrieben oder empfangen hat, genauer: 268 Briefe, die trotz der eingangs beschriebenen Säumigkeit für die Nachwelt erhalten geblieben sind.

Insgesamt 1200 Exemplare umfasst der gesamte Fundus, den Projektleiter Dr. Frank Grunert und seine Mitarbeiter – der Historiker Dr. Matthias Hambrock und der Politologe Dr. Martin Kühnel – vom Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) seit 2010 zusammengetragen und rekonstruiert haben. Der Großteil der Briefe stammt aus verschiedenen Archiven und Bibliotheken unter anderen in Kopenhagen, Hamburg, Berlin und nicht zuletzt in Halle. Die gesamte Edition ist auf vier Bände angelegt, die zum Schluss durch ein Personenlexikon vervollständigt werden soll.

„Die Briefe legen ein spannendes Bild des akademischen Alltags jener Zeit frei. Und sie zeigen auch, welche Themen Thomasius tatsächlich umtrieben“, sagt Mitherausgeber Frank Grunert. Enthalten sind Teile seiner Korrespondenz mit akademischen Kollegen, aber auch mit Institutionen. So etwa ein Brief, den er im August 1690 vom Rat der Stadt Halle erhielt. Darin versuchen die halleschen Stadtväter dem aufsässigen Gelehrten, der zuvor bereits an der Universität Leipzig in Ungnade gefallen war, zu erklären, warum er seine Vorlesungen unmöglich in der hiesigen Ratswaage halten könne: Das Haus werde nämlich sowohl für Hochzeiten als auch für Zusammenkünfte der Bürgerschaft, ja sogar für die Vorstellungen von Komödianten gebraucht. Und obwohl das Deutsch, in dem der Brief einst formuliert wurde, für heutige Leser durchaus ungewohnt klingt, so schimmern die Reserviertheit und der Unwillen immer noch durch, mit denen die Botschaft vor mehr als 300 Jahren formuliert worden ist.

Deutlich wird im Band immer wieder auch, dass Thomasius ein streitbarer Geist war, der keiner Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen schien. Was sich in den Briefen vor allem darin zeigt, dass sie nicht selten Streitigkeiten zum Thema haben. Und auch darin, dass diese in einer Deutlichkeit ausgetragen wurden, wie es heute eher unüblich wäre. Geradezu exemplarisch dafür steht ein Brief vom 3. Juli 1689, den Thomasius an die Leipziger Stadtgeistlichkeit, das so genannte Geistliche Ministerium, schrieb. Darin ordnet er die dortigen Mitglieder zunächst ihrem Konfliktpotenzial nach in verschiedene Klassen ein. Dabei sortierte er den Theologen August Pfeiffer in die schlimmste Kategorie. Jener habe ihn „geschmähet“ und „bey nahe eine gantze Stunde auff mich nahmentlich gelästert, und mich als den ärgsten Schurcken ausgemachet“, weswegen Thomasius jegliche Einigung mit Pfeiffer für unmöglich hielt.

Und schließlich belegen einige Briefe, dass Thomasius durchaus eine schwache Seite besaß. Etwa, wenn es um seine eigene berufliche Situation ging. Dann offenbarte sich, wie unsicher er sein konnte. Deutlich wird das zum Beispiel in einem Brief vom 15. März 1690 an seinen früheren Lehrer Johann Christoph Becmann in Frankfurt an der Oder. Darin schilderte Thomasius seine Besorgnis, nachdem man in Leipzig gegen ihn ein Publikations- und Lehrverbot verhängt hatte. Hinter den Äußerungen tritt deutlich zu Tage, dass Thomasius für diese, seine existenziellen Probleme nicht wirklich einen „Plan B“ hatte.
 

Christian Thomasius auf einem Gemälde, das in Besitz der Universität ist.
Christian Thomasius auf einem Gemälde, das in Besitz der Universität ist. (Foto: Markus Scholz)

Bei der Erschließung der vielschichtigen Texte leistet das Team vom IZEA etwas, das Historiker Matthias Hambrock „als detektivische Kleinarbeit“ bezeichnet. Schließlich befinde man sich bei jedem Brief auf unbekanntem Gelände. Und so reiche es nicht aus, die Quellen lediglich sprachlich zu entziffern, auch der jeweilige Kontext müsse im Einzelfall akribisch recherchiert werden. Dabei könne es durchaus passieren, „dass einem das Material buchstäblich unter den Fingern explodiert“, meint Martin Kühnel, der an der MLU über das politische Denken bei Christian Thomasius promoviert wurde.

Tauchen in den Briefen zum Beispiel unbekannte Namen oder Schauplätze auf, wird versucht, sie zu verorten. Dank besserer Such-Algorithmen in digitalen Suchmaschinen sei dabei heutzutage vieles möglich geworden. Aufpassen müsse man allerdings, dass man sich in diesem Prozess nicht verliere. In jedem Fall bleibe der Aufwand, die Texte zum „Sprechen“ zu bringen, enorm hoch, ergänzt Frank Grunert, der sich als Philosophiehistoriker schon seit seiner Studienzeit Ende der 1980er Jahre an der Uni Münster intensiv mit Christian Thomasius beschäftigt und ebenfalls über diesen promoviert wurde.

Die für die Bearbeitung vollständig digitalisierten Quellen liegen in sehr unterschiedlicher Qualität vor. Einige enthalten Flecken oder sind von Tintenfraß gezeichnet, so dass sie nur noch eingeschränkt lesbar sind. Bei anderen sind es schlicht die schwer zu entziffernde Handschrift oder individuelle Eigenheiten der einstigen Autoren, die für die Wissenschaftler eine Herausforderung darstellen. So nutzten einige Schreiber jener Zeit auch das Schriftbild zum Transport von Botschaften. Etwa dann, wenn sie ganze Textpassagen in Versalien oder besonders großer Schrift darstellten, sobald in den Briefen die Rede von hochgestellten Persönlichkeiten oder gar von Gott war.

Eine weitere Schwierigkeit: Die deutschsprachige Korrespondenz jener Zeit kommt ohne orthografische Regeln aus, was die Entzifferung des Wortlauts gelegentlich zusätzlich erschwert. Ebenfalls üblich für jene Zeit sind fremdsprachige Einschübe in Latein oder Französisch. „Unsere Arbeit ist in diesen Fällen ein überaus kommunikativer Prozess“, sagt Martin Kühnel. Denn nur in der gemeinsamen Diskussion lassen sich Zweifelsfälle klären und ein Weg finden, wie aufgefundene Besonderheiten in der Edition anschaulich dokumentiert werden können.

Bereits 2010 fiel der Startschuss für das ambitionierte Projekt. Lange zuvor bestand in der Wissenschaftsgemeinde Einigkeit darüber, dass eine Edition von Thomasius’ Briefwechsel wünschenswert und für das bessere Verständnis des großen Aufklärers auch längst überfällig sei. Schon 1955 war sie von dem damals an der MLU lehrenden Rechtshistoriker Prof. Dr. Rolf Lieberwirth angeregt worden. Immerhin hat Lieberwirth, inzwischen 97 Jahre alt, das Erscheinen des ersten Bandes noch erlebt. Bis heute nimmt er trotz gesundheitlicher Einschränkungen Anteil am Fortgang der Arbeiten. Noch in diesem Jahr soll der zweite Teil erscheinen. Und auch an Band drei wird bereits gearbeitet. Jedoch: Im September 2019 endet die bisherige Finanzierung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Projektleiter Grunert: „Angesichts des bisher Geleisteten sind wir zuversichtlich, dass wir das Projekt in absehbarer Zeit zu Ende führen können.“

Thomasius fand Zuflucht in Halle

Christian Thomasius (1655 bis 1728) war Jurist und Philosoph. Durch seine intellektuelle Autorität wurde der in Leipzig geborene Gelehrte zum Wegbereiter der Frühaufklärung in Deutschland. Er setzte sich für eine humane Strafordnung ein und trug damit auch zur Abschaffung von Hexenprozessen und Folter bei. Im März 1690 wurde er in Leipzig mit einem Lehr- und Publikationsverbot belegt und siedelte daraufhin in das zu Brandenburg gehörende Halle über.
Dort wurde er zum Kurfürstlichen Rat ernannt. Darüber hinaus engagierte er sich als Gründungsmitglied der Juristischen Fakultät der Friedrichs-Universität in Halle, die am 11. Juli 1694 in der Ratswaage auf dem Marktplatz feierlich eröffnet wurde.
Das Grab von Christian Thomasius befindet sich auf dem Stadtgottesacker in Halle. Noch heute tragen in der Saalestadt eine Straße im Süden der Altstadt und mit dem Thomasianum auf dem Universitätsplatz auch ein Lehrgebäude der MLU seinen Namen.

Dr. Frank Grunert
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung
Telefon: +49 345 55-21773
E-Mail: frank.grunert@izea.uni-halle.de

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