Kulinarische Zeitreise: Die ULB entdeckt historische Rezepte neu

Sie haben drei besondere Gebäcke zubereitet. Welche sind das?
Julia Knödler: Nach einem historischen Rezept von 1697 habe ich ein Zimtbrot nachgebacken. Es stammt aus dem ältesten Kochbuch im Bestand der ULB, das der Adligen Johanna Sophia von Ponickau gehörte. Sie war die Tante von Johann August von Ponickau, dessen Bibliothek zum Grundstock der historischen Sammlungen der ULB gehört. Das entstandene Zimtbrot ist eine Mischung aus Rührteig und Biskuit.
Martin Scheuplein: Ich habe ein Lebkuchenrezept aus dem „Halle‘schen Kochbuch für den bürgerlichen Haushalt“ von 1905 sowie ein Rezept für Butterplätzchen aus einer handgeschriebenen Rezeptsammlung aus dem 19. Jahrhundert ausprobiert. Die Lebkuchen liegen geschmacklich zwischen Makronen und Pfefferkuchen. Die Plätzchen enthalten mehr Zucker als heutige Varianten, dafür sind sie weicher und weniger knusprig.
Wie sind Sie auf diese Rezepte gestoßen?
Scheuplein: Ich bin an der ULB zuständig für das Fachreferat Ernährungswissenschaften. Deshalb kenne ich den Bestand an Ernährungsliteratur sehr gut. Darüber hinaus erhalte ich durch meine Mitarbeit in der Abteilung Historische Sammlungen Einblick in die Sonderbestände der ULB, in denen das Thema Kulinarik in vielfältiger Weise zu finden ist. Gemeinsam mit Frau Knödler ist die Idee entstanden eine Ausstellung zur Kulturgeschichte des Kochbuchs zu kuratieren. Bei der Vorbereitung sind wir dann auf zahlreiche historische Rezepte gestoßen.
Knödler: Die ULB hat einen umfangreichen historischen Altbestand. Zugleich sammelt sie als Landesbibliothek alle Bücher, die in Sachsen-Anhalt erscheinen. Unsere Ausstellungen zeigen regelmäßig besondere Bestandsgruppen. Für die aktuelle Ausstellung haben wir auch historische Handschriften digitalisiert, damit man sich die Rezepte anschauen und ausprobieren kann – und genau das haben wir gemacht.
Sind Ihnen Besonderheiten beim Nachbacken aufgefallen?
Knödler: Beim Zimtbrot mussten wir die alten Maßeinheiten erst umrechnen. Zudem war Backen damals deutlich aufwendiger. Ohne elektrisches Rührgerät hätte ich die Eier eine Stunde per Hand schaumig schlagen müssen. Wie das fertige Zimtbrot aussehen sollte, kann ich nur vermuten – Backform und Größe waren im Rezept nicht angegeben, da stand nur etwas von einem „Modell“, das man nutzen soll. Meine Backform war gar nicht groß genug, um alle Zutaten – immerhin auch zwölf Eigelb und sechs ganze Eier – zu fassen.
Scheuplein: Das Plätzchenrezept war eher ein sehr flüssiger Rührteig, bei dem die Mehlangabe unkonkret war: Man nehme „so viel als nötig“. Damit er einigermaßen formbar wurde und ausgestochen werden konnte, habe ich also schrittweise Mehl hinzugegeben.
Knödler: Bemerkenswert ist auch, dass der Teig für die Lebkuchen laut Rezept sechs bis acht Wochen stehen gelassen werden könnte. Das haben wir aber nicht gemacht. (lacht) Rohe Eier acht Wochen rumstehen zu lassen ... Aber die Lebkuchen scheinen nicht zu Massenvergiftungen im Halle der Kaiserzeit geführt zu haben.
Wenn man alte Kochbücher aufschlägt, wirken viele schon auf den ersten Blick anders als heutige Rezepte. Was verraten sie über Lebensstil und Ernährung früherer Zeiten?
Knödler: Kochbücher zeigen, wie sich gesellschaftliche Rollen und Esskulturen verändern. Im 19. Jahrhundert beispielsweise professionalisierten sich die Tätigkeiten der bürgerlichen Hausfrau – und das spiegelt sich in den Büchern. Neben Rezepten gibt es da auch Ratschläge zur Haushaltsführung, Vorratshaltung oder Planung ganzer Menüs. Mit der Industrialisierung wuchs die industrielle Lebensmittelproduktion, die in Kochbüchern oft mit Fabrikbildern beworben wurde – rauchende Schlote waren damals interessanterweise ein Sinnbild für höchste Qualität. Als Reaktion darauf entstanden Gegenbewegungen wie die „Jungborn“-Bewegung – eine frühe naturheilkundliche Strömung, die bereits 1909 ein vegetarisches Kochbuch veröffentlichte und auf natürliche Ernährung setzte. Auch die Kriegszeiten haben die Kochbücher stark geprägt. Es gab Werke, die sich ausdrücklich an den Lebensmittelmangel anpassten.
Wie ist Ihre Einschätzung: Taugen historische Rezepte wie die für Zimtbrot, Lebkuchen und Plätzchen auch heute noch fürs Weihnachtsfest?
Knödler: Das Zimtbrot ist geschmacklich sehr gut und passt mit seinem intensiven Zimtaroma wunderbar in die Winterzeit. Ich werde es auch einmal als Low-Carb-Version mit Mandelmehl ausprobieren. Gefunden haben wir übrigens auch Rezepte explizit für die Weihnachtszeit, wie Schokokekse zum Anhängen an den Weihnachtsbaum im „Halle‘schen Kochbuch“.
Scheuplein: Ich empfehle vor allem den Hallensern, in dieses Kochbuch zu schauen und auszuprobieren, wie man vor 100 Jahren gekocht hat. Viele historische Rezepte lassen sich problemlos auf die heutige Küche übertragen. Lebkuchen war übrigens ursprünglich gar kein Weihnachtsgebäck, sondern wurde das ganze Jahr über hergestellt, weil er sehr kräftigend war. Speziell zu Weihnachten wurde er mit Nüssen und exotischen Gewürzen verfeinert.


