Halle und der Orient – Zum Tod von Winfried Orthmann

25.04.2024 von Prof. Dr. Gunnar Brands, Prof. Dr. Felix Blocher in Personalia
Der renommierte Archäologe Winfried Orthmann ist am 1. Februar 2024 in Völklingen gestorben, unweit seines langjährigen saarländischen Wohnorts Mandelbachtal. An der MLU war er von 1994 bis 2000 aktiv und beteiligte sich unter anderem maßgeblich an der Konzeption eines Sonderforschungsbereiches. Ein Nachruf von Prof. Dr. Gunnar Brands und Prof. Dr. Felix Blocher
Winfried Orthmann auf seiner Verabschiedungsfeier im Juli 2000
Winfried Orthmann auf seiner Verabschiedungsfeier im Juli 2000 (Foto: Jürgen Zech)

Winfried Orthmann wurde am 16. August 1935 in Berlin geboren. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verschlug es die Familie nach Bad Sachsa im Südharz, wo Orthmann im Frühjahr 1954 das Abitur ablegte. Unmittelbar danach begann er an der Ludwig-Maximilians-Universität München das Studium der Klassischen Archäologie. Bereits 1955 wechselte er an die Freie Universität Berlin und studierte dort Vorderasiatische Altertumskunde bei Anton Moortgat, altorientalische Sprachen bei Johannes Friedrich, Klassische Archäologie bei Friedrich Wilhelm Goethert sowie Vorgeschichte bei Otto-Friedrich Gandert. Während des Studiums lernte er Türkisch und nahm an Ausgrabungen in Mindelheim, Manching und Thessalien teil.

1959/60 war es Orthmann dank einer DAAD-Förderung möglich, an der Universität Ankara bei Tahsin und Nimet Özgüç (Anatolische Vorgeschichte, Vorderasiatische Archäologie), Emin Bilgiç (Assyriologie) sowie Sedat Alp (Hethitologie) zu studieren. Er nutzte die Zeit im Archäologischen Museum Ankara für die Materialaufnahme zu seiner Dissertation und erhielt außerdem die Möglichkeit, an den Ausgrabungen in Kültepe (1960) und Boğazköy (1960 und 1961) teilzunehmen. 1961 wurde er an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit “Die Keramik der Frühen Bronzezeit aus Inneranatolien“ promoviert, für die er mit dem renommierten Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) ausgezeichnet wurde (1962/63). Von 1963 bis 1968 war er als Referent an der Abteilung Istanbul des DAI tätig. Bereits 1963 führte er seine erste eigene Ausgrabung in einem bronzezeitlichen Gräberfeld bei Ilıca nördlich von Ankara durch. In Istanbul konnte er auch die Grundlagen für seine Habilitationsschrift legen, die er 1969 unter dem Titel „Untersuchungen zur späthethitischen Kunst“ an der Universität des Saarlandes vorlegte.

Nach einem Forschungsaufenthalt am Oriental Institute der Universität Chicago kehrte er nach Saarbrücken zurück und wurde dort 1971 zum Professor für Vorderasiatische Archäologie ernannt. In den Saarbrücker Jahren entfaltete er eine bemerkenswerte Forschungs- und Publikationstätigkeit. Schnell bekannt geworden ist Orthmann einem größeren Leserkreis mit dem meisterhaften Band „Der Alte Orient“ in der Propyläen Kunstgeschichte (14, 1975), einem bis heute unersetzten Werk. Nach seiner langjährigen Beschäftigung mit der Archäologie Anatoliens kam in den frühen Saarbrücker Jahren Syrien als Forschungsgebiet hinzu, wo vor dem Bau des Euphratstaudamms umfangreiche archäologische Untersuchungen nötig wurden. Orthmann grub von 1973 an mit großem Erfolg die bronzezeitlichen Siedlungs- und Gräberstätten Tall Munbaqa, Halawa, Tawi, Wreide und Shams ed-Din aus. 1986 übernahm er die von seinem Lehrer Anton Moortgat begonnene Ausgrabung in Tell Chuera, einem der größten und bedeutendsten Ruinenhügel in Nordsyrien, die er bis 1998 leitete und dann an seinen Schüler Jan-Waalke Meyer (Goethe-Universität Frankfurt) übergab.

Einen dritten Forschungsschwerpunkt bildete seit den frühen 1990er Jahren Georgien. Er wurde durch die schon seit 1975 bestehende Partnerschaft zwischen Saarbrücken und Tbilisi, seit 1983 auch zwischen den beiden Universitäten, befördert. In Georgien gelangen in Zusammenarbeit mit Otar Dschaparidze, Kiaso Pizchelauri und anderen spektakuläre Funde in den Ausgrabungen frühbronzezeitlicher Grabhügel, etwa in Anaga und Ananauri. Zusammen mit Andrei Miron konzipierte und organisierte er eine Ausstellung „Unterwegs zum Goldenen Vlies“ in Saarbrücken (1995), die danach noch in anderen Städten Deutschlands gezeigt wurde. Der gleichnamige Katalog ist bis heute ein wichtiges Handbuch zur Archäologie Georgiens.

In der Türkei, in Syrien und Georgien war Orthmann merklich zu Hause, nicht nur fachlich, sondern auch menschlich. Sprachgewandt, wie er war, war er den Menschen herzlich zugewandt. Die unaufgeregte Gelassenheit, eines seiner Markenzeichen, wurde nicht nur von den Verantwortlichen dort sehr geschätzt.

Nach Halle kam Orthmann spät in seiner Laufbahn. 1994, mit Ende Fünfzig, übernahm er ein Institut, das es in dieser Konstellation nirgends in Deutschland gab – anstelle der Einzeldisziplin Vorderasiatische Archäologie, die er in Saarbrücken vertrat, nun „Orientalische Archäologie und Kunst“. Diesen aus der Nachkriegsgeschichte des Instituts entwickelten Ansatz hat sich Orthmann zu eigen gemacht und nach seiner Berufung beharrlich daran gearbeitet, den Orient in Lehre und Forschung ganzheitlich zu denken – von den frühen Hochkulturen Ägyptens über Vorderasien und den griechisch-römisch-christlichen Orient bis hin zur Archäologie Mittelasiens. Bis zu seiner Emeritierung hat Orthmann um die dritte Professur, Islamische Kunstgeschichte, gefochten. Es ist sein Verdienst, dass sich Ost und West in den 1990er Jahren am Institut wiederfanden. Er war eine Integrationsfigur, die das Institut in der Nachwendezeit und dem scheinbaren Bruch mit der Universitätstradition der DDR dringend brauchte. Nicht zuletzt in dieser Funktion wurde er außerordentlich geschätzt und geachtet.

Zugleich gehörte Orthmann zu der pragmatischen Generation der nach der ‚Wende‘ Berufenen, die die Notwendigkeit und zugleich Chance sahen, ihre Fächer in einer neuen Weise miteinander zu verknüpfen – insbesondere in den Altertums- und Orientwissenschaften, die seit altersher eine hallesche Stärke waren und damals besonders günstige Voraussetzungen vorfanden. Orthmann war sich bewusst, dass es einer gliedernden und festigenden Struktur bedurfte, um diese Synergien freizusetzen. Es war deshalb nur konsequent, dass Orthmann sich von Anfang an maßgeblich an der Konzeption des Halle-Leipziger SFB 586 („Differenz und Integration: Wechselwirkungen zwischen nomadischen und sesshaften Lebensformen in Zivilisationen der Alten Welt“) beteiligte, der die Orient- und Altertumswissenschaften sowie die Ethnologie zu einer treibenden Kraft in den Geisteswissenschaften jener Jahre machte.

Was er mit auf den Weg gebracht hatte, trug nach seiner Pensionierung im Oktober 2000 und weit darüber hinaus Früchte: Am SFB 586, der von 2001 bis 2012 Bestand hatte, war die Orientalische Archäologie mit insgesamt acht Teilprojekten beteiligt. Hier wie in Verwaltungsangelegenheiten trat Orthmann meinungsstark in Erscheinung, ohne dominant zu sein, sachorientiert und verbindlich. Es ist kein Zufall, dass Orthmann schon 1996, zwei Jahre nach seiner Berufung, zum Dekan des damaligen Fachbereichs Kunst-, Orient- und Altertumswissenschaften gewählt wurde, 1998 zum Prodekan.

Neben all diesen Aufgaben war Winfried Orthmann ein engagierter akademischer Lehrer, der in den wenigen halleschen Jahren einen festen Kreis von Studierenden um sich scharte. Zum 1. Oktober 2000 ging Winfried Orthmann in den Ruhestand und zurück ins Saarland, kam aber regelmäßig nach Halle, um sich mit der ihm eigenen Zurückhaltung nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. In den saarländischen Ruhestandsjahren setzte er seine Forschungs- und Publikationstätigkeit fort: So war er von 2006 bis 2010 Mitglied des Ausgrabungsprojekts am Tell Halaf (Nordsyrien), das von Tübingen, Halle und Berlin aus durchgeführt wurde. Bis zuletzt arbeitete Orthmann an Veröffentlichungen zur Frühbronzezeit in Georgien, zur späthethitischen Kunst und zu den Ausgrabungen in Tell Halaf.

Winfried Orthmann war seit 1966 Korrespondierendes und seit 1979 Ordentliches Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts. Im Jahre 1996 wurde er zum Mitglied der Georgischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Zur Pensionierung 2000 ehrten ihn Kollegen und Freunde mit einer Festschrift, die von der Wertschätzung zeugte, welche Orthmann weltweit entgegengebracht wurde.

Orthmann hinterlässt seine Frau Ursula, vier Kinder und sechs Enkel. Er wird uns fehlen, und wir gedenken seiner in Bewunderung als eines bedeutenden unermüdlichen Forschers und bescheidenen, humorvollen, optimistischen Menschen. Für alle, die ihn kannten, ist es leicht, Winfried Orthmann ein ehrendes Andenken zu bewahren.

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Prof. Dr. Gunnar Brands war von 1996 bis 2021 Professor für Archäologie und Kunstgeschichte des Christlichen Orients (Christliche Archäologie und Byzantinische Kunstgeschichte), Prof. Dr. Felix Blocher von 2001 bis 2022 Nachfolger Orthmanns auf der Professur für Vorderorientalische Archäologie.

 

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