„Wir Perfektionisten“ - Wissenschaft im Schaufenster

14.05.2012 von Janine Gürtler (Studentin im "Master MultiMedia & Autorschaft") in Studium und Lehre, Varia, Campus
Wir wollen den perfekten Körper, die perfekte Beziehung, den perfekten Job: Der Wunsch des Menschen, besser als alle Anderen - gar „perfekt“ - zu sein, ist heute präsenter denn je. Aber ist Vollkommenheit wirklich erstrebenswert? Gibt es sie überhaupt? Darüber diskutierten im April Wissenschaftler und Praktiker (vom Fotografen bis zum Schönheitschirurgen) im „Schaufenster“ des Neuen Theaters in Halle. Auf der Bühne erprobten sie ein neues Format der wissenschaftlichen Diskussion.
Ist das Vollkommene Lust oder Last? Bei den Diskutanten aus Wissenschaft und Kunst herrschte Uneinigkeit.
Ist das Vollkommene Lust oder Last? Bei den Diskutanten aus Wissenschaft und Kunst herrschte Uneinigkeit. (Foto: Shirley Brückner)

Neu ist das Streben des Menschen nach Perfektion nicht. Schon bei Aristoteles erreicht der Mensch sein höchstes Lebensziel, die Glückseligkeit, nur im Streben nach Weisheit und der Vervollkommnung seiner Fähigkeiten. Und auch in der Geschichte der Theologie, der Politik, der Kunst und der Wissenschaft galt das Vollkommene stets als begehrenswertes Absolutum. Dass dem menschlichen Streben nach Vollkommenheit jedoch Grenzen gesetzt sind, beweist die Geschichte im selben Atemzug.

So sehr es den Menschen seit jeher nach Perfektion verlangt, erreicht hat er sie bis heute nicht. Damit stellt sich die Frage, ob es Vollkommenheit überhaupt geben kann und wie das Streben danach zu bewerten ist: Ist Perfektion Ausdruck persönlicher Entfaltung und Selbstbestimmung oder nur ein gesellschaftlicher Zwang, dem wir uns widerstandslos unterwerfen? Ist das Vollkommene Lust oder Last?

Wissenschaft auf der Bühne

Der Schweizer Historiker Prof. Philipp Sarasin
Der Schweizer Historiker Prof. Philipp Sarasin (Foto: Shirley Brückner)

Diese Fragestellung stand im Zentrum der Podiumsdiskussion „Wir Perfektionisten. Vollkommenheitsstreben zwischen Wahl und Qual“, die den Abschluss einer Vortragsreihe bildete, die von von den beiden Interdisziplinären Zentren zur Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) und für Pietismusforschung (IZP) der MLU ausgerichtet wurde. Schauplatz der Diskussion war die „Schaufenster“- Bühne inmitten der Kulturinsel Halle, wo normalerweise Lesungen, Musik- oder Theaterdarbietungen stattfinden.

An diesem Abend nahmen auf den gemütlichen Sesseln jedoch nicht Schauspieler oder Poetry Slammer, sondern fünf Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Medizin und Kunst Platz. Die Bühne als Schauplatz für eine wissenschaftliche Diskussion - mit diesem neuen Veranstaltungskonzept soll die Wissenschaft verstärkt aus akademischen Einrichtungen heraus in städtische Räume getragen werden.

Den Einstieg in die Diskussion lieferte der Schweizer Historiker Philipp Sarasin, Professor an der Universität Zürich. Mit einem geschichtlichen Überblick von der Antike bis zur Moderne zeigte er auf, dass wir in der heutigen Zeit entgegen den Vorstellungen von Aristoteles oder Kant nicht mehr nach geistig-spiritueller, sondern vor allem nach körperlicher Vollkommenheit streben. Mit der Frage, inwieweit Vervollkommnung als Zeichen der Unterdrückung oder Selbstverwirklichung bewertet werden kann, verwies er zudem auf den engen Zusammenhang von Perfektion und Macht.

Ganz ähnlich argumentierte auch Ulrich Bröckling, Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Breisgau. Er unterschied zwischen zwei Modi der Vervollkommnung: der Perfektionierung und der Optimierung. Damit machte er deutlich, dass der Mensch in seinem Streben nach Vollkommenheit einerseits fremd-, andererseits auch selbstbestimmt agieren kann. Auf die ethischen Aspekte der Frage „Schönheit um jeden Preis?“ verwies der ästhetisch-plastische Chirurg Holger Bannasch vom Universitätsklinikum Freiburg. Anhand von zahlreichen Abbildungen aus seinem Berufsalltag sprach er über die Möglichkeiten und Grenzen der Schönheitschirurgie und betonte dabei die Notwendigkeit, den Menschen vor allem als Patienten und nicht als Klienten zu begreifen.

Vollkommenheit als „Ding der Unmöglichkeit“?

Mit der Thematik des perfekten Körpers beschäftigte sich auch der Konzeptfotograf Paul Gisbrecht. In seiner Bilderserie „Human Reification“, die gemeinsam mit weiteren thematisch einschlägigen Arbeiten noch bis zum 18. Mai in der Galerie Raum Hellrot in Halle ausgestellt wird, legt er standardisierte Messlatten und Normen aus dem Bereich der Architektur an den menschlichen Körper an. Er reflektiert bewusst die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit und spricht zugleich dem Unvollkommenen – als dem jeweils Individuellen – die wahre Schönheit zu.

Andrea Kern, Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Leipzig dagegen zeigte, dass Individualität und Vollkommenheit einander keineswegs ausschließen müssen. Im Rückgriff auf den Aufklärer Immanuel Kant argumentierte sie, dass Individualität und Vollkommenheit keine Gegenbegriffe sind, sondern einander vielmehr bedingen. Zwar habe laut Kant jeder Mensch eine Pflicht zur Vervollkommnung, aber diese sei eine „weite Pflicht“, d.h. wie sie inhaltlich ausgefüllt wird, bleibe letztlich dem Einzelnen überlassen, der sich für seine jeweils individuelle „Lebensart“ entscheiden muss. So verortete auch Andrea Kern das Streben des Menschen nach Perfektion im Spannungsfeld von Müssen und Wollen, Freiheit und Zwang.

Die Podiumsdiskussion hat den gezielten Versuch einer Gegenwartsdiagnose des menschlichen Strebens nach Perfektion unternommen. Die Referenten aus Wissenschaft, Kunst und Medizin konnten mit ihren spezifischen, teilweise auch gegensätzlichen Perspektiven einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Vollkommenheit liefern. Dabei fand immer wieder auch das 18. Jahrhundert als zentraler theoretischer und kulturgeschichtlicher Bezugspunkt Eingang in die Diskussion. Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Schlüsselbegriff der Moderne ein großes Publikum anziehen kann, hat die Veranstaltung im Neuen Theater auf jeden Fall bewiesen.

Die Ausstellung des Fotografen Paul Giesbrecht ist noch bis 18. Mai in der Galerie "Raum Hellrot" zu sehen.

Die Diskussion kann bei MDR Figaro nachgehört werden.

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