So frei, wie die Herde es erlaubt

22.11.2011 von Corinna Bertz in Forschung, Wissenschaft
Die Würfel der Belutschen waren aus Hammelknöcheln, ein Rentiermagen diente als Milchbehälter und Wolle wurde mit Schildläusen gefärbt – auf den ersten Blick hat das Leben der Nomaden mit unserer Welt der Smartphones und digitalen Netzwerke überhaupt nichts gemeinsam. Dabei sind uns die „frühen Globalisierer“ in manchen Dingen bis heute einen Schritt voraus. Wie nomadische und sesshafte Kulturen seit Jahrtausenden aufeinander einwirken, zeigt die Ausstellung „Brisante Begegnungen“.
In Tibet wurden die Pferde der Nomaden heute weitgehend durch Motorräder ersetzt. Im Hintergrund das Zelt von Raupenpilzsammlern
In Tibet wurden die Pferde der Nomaden heute weitgehend durch Motorräder ersetzt. Im Hintergrund das Zelt von Raupenpilzsammlern (Foto: Andreas Gruschke)

Nomaden gelten als Meister des Transports und frühe Experten der Flexibilität. Wie sie mit ihren „hängenden Haushalten“ aus Taschen, Säcken und Teppichen durch die Steppen zogen, zeigen die Forscher des SFB 586 im Museum für Völkerkunde Hamburg. An den einzelnen multimedialen Stationen erfährt der Besucher unter anderem, wie und womit Nomaden im vorderen Orient und in Zentralasien auf dem Markt handeln, wie sie mithilfe von Schildläusen oder Walnussschalen ihre Wolle färben oder welche Lieder Rentierführer sangen.

Wenn es um schlaue Ressourcennutzung geht, könnten uns Nomaden heute als Vorbild dienen, finden viele der am SFB beteiligten Wissenschaftler. „Bei der Fleischproduktion stellt sich zum Beispiel die Frage: Bringt man die Tiere zum Futter oder das Futter zu den Tieren? Nachhaltiger ist es meist, die Tiere zum Futter zu bringen“, erklärt Professor Jürgen Paul. „Aber die alte Kulturtechnik der Weidewanderung haben die meisten Menschen in Zentralasien während der Zeit der Sowjetunion verlernt. Der technische Fortschritt ist an dieser Stelle gescheitert.“

Das Vieh bestimmt den Weg

Amulett mit einer Wolfskralle aus Tadschikistan
Amulett mit einer Wolfskralle aus Tadschikistan

Die meisten Gebrauchsgegenstände, Jagdwaffen und Schmuckstücke, die in Hamburg gezeigt werden, sind tierische Produkte: ein Rentierfellmantel, ein Wolfskrallenamulett oder ein Tierschädel als Salzfass gehören dazu. Auch die Tiere, die das Leben nomadischer Völker prägen, stehen in Lebensgröße vor dem Besucher. Denn auch Nomaden können, obwohl sie schon immer als besonders frei und unbeherrschbar galten, nicht einfach dorthin ziehen, wo sie wollen. Ihr Vieh, das mit Futter und Wasser versorgt werden muss, bestimmt den Weg.

„Das Tier grenzt den Lebensraum seiner Besitzer ein. Wo es nicht existieren kann, können auch die Nomaden nicht leben“, erklärt der Historiker Dr. Oliver Schmitt. „Wasser ist zum Beispiel eine ganz entscheidende Ressource, die der Nomade entweder im unbewohnten Gebiet finden muss oder zu der er sich – meist gewaltsam – Zutritt auf bewohntem Gebiet verschaffen muss.“ Die Begegnungen zwischen Nomaden und Sesshaften sind das zentrale Thema des SFB 586 „Differenz und Integration“.

Selbstbilder und Fremdbilder

Dr. Oliver Schmitt (l.) und Dr. Thomas Brüggemann erforschten das Verhältnis zwischen Nomaden und Sesshaften in verschiedenen Regionen.
Dr. Oliver Schmitt (l.) und Dr. Thomas Brüggemann erforschten das Verhältnis zwischen Nomaden und Sesshaften in verschiedenen Regionen.

Eine übergeordnete Frage ist: Wie geht der Zentralstaat mit den Nomaden um? „Da hat sich herausgestellt, dass oftmals sehr ähnliche Strategien angewandt wurden, unabhängig von der Region und dem Jahrhundert“, erläutert der Historiker Dr. Thomas Brüggemann. Ihn beschäftigt eine andere zentrale Frage: „Wie haben sich die Nomaden verhalten? Sie waren ja meist – wenn auch nicht immer – eine Minderheit. Haben sie sich assimiliert? Das war die Regel, meist haben sie sich angepasst und sind sie als nomadische Kultur schnell verschwunden.“

Auch Übergangsphänomene zwischen Nomadismus und Sesshaftigkeit haben die Historiker, Ethnologen, Archäologen und Geographen aus Halle und Leipzig untersucht. Denn manchmal waren auch sesshafte Gesellschaften mit einer nomadischen Übermacht konfrontiert und passten sich dieser an. Die meisten Konflikte entstanden jedoch, wenn sich sesshafte Kulturen ausdehnten. „Die Nomaden konnten dem römischen Imperium in der Antike irgendwann kaum noch aus dem Weg gehen, weil es sich immer stärker gen Osten ausbreitete“, erzählt Oliver Schmitt.

Er untersuchte das Verhältnis der nomadischen Araber zu den Römern von 63 vor bis 630 nach Christi und analysierte dafür vor allem die Berichte römischer Geschichtsschreiber. „In diesen Berichten wurde Nomaden meist eine geringe Kulturstufe zugeschrieben. Den Römern ging es damals nicht darum, fremde Völker und Kulturen zu verstehen – ihr Maßstab war die eigene Kultur.“

„Die Leute in Brettern“ als Ressource

Die Jurte, das traditionelle Zelt der Nomaden in West- und Zentralasien, steht im Museum für Völkerkunde den Besuchern offen.
Die Jurte, das traditionelle Zelt der Nomaden in West- und Zentralasien, steht im Museum für Völkerkunde den Besuchern offen.

Mittlerweile hat sich die Wahrnehmung von Nomaden gewandelt. „In Bulgarien gibt es zum Beispiel mittlerweile eine nomadische Interessenvertretung, aber das gilt dort vielen als Makel“, erzählt Thomas Brüggemann. „In Algerien oder Marokko gilt die Lebensform der Berber auch heute noch vielen als minderwertig.“

Haben Nomaden Sesshaften gegenüber ähnliche Vorbehalte? „„Nomaden sind vielleicht vorsichtig bei der Begegnung mit Fremden, aber sie brauchen den Austausch und deshalb auch den Kontakt zu den Sesshaften “, erklärt Professor Jürgen Paul, der in seinem Projekt die historischen Handelsbeziehungen zwischen den beiden Gruppen erforscht. „Für sie sind wir ‚die Leute in Brettern‘. Die sesshaften Menschen, denen sie begegnen, stellen für die Nomaden immer eine Ressource dar.“

Bis zum 20. Mai können Besucher der Ausstellung über diese Begegnungen und über die Arbeit des SFB mehr erfahren. Einen ausführlichen Bericht gibt es auch in der Dezember-Sendung von Uni-TV.

Mehr über die Anfänge des SFB und die Eröffnung der Ausstellung im Unimagazin.

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