Wie und wozu Menschen (ab)gebildet werden

06.07.2012 von Margarete Wein in Forschung, Rezension, Wissenschaft
Seit 2003 gibt es die Landesinitiative „Sachsen-Anhalt und das 18. Jahrhundert“. Ende 2011 erschien Band 6 der gleichnamigen, vom Kultusministerium geförderten Buchreihe, zwar nicht ganz so schwer wie die vorigen, doch nicht minder gewichtig. Er versteht sich als Katalog zum Themenjahr 2010, der in 18 Beiträgen die vielfarbige Palette der Aktivitäten von Museen und Archiven des Landes widerspiegelt und reich illustriert für alle Zeit bewahrt. Bisher wurden Wirtschaft und Technik, Lese- und Alltagswelten sowie Leben und Wirken von Frauen im 18. Jahrhundert in Sachsen-Anhalt im Detail untersucht und vorgestellt – nun sind die Menschenbilder jener Epoche an der Reihe.

In den Kapiteln „Menschenbilder in der Literatur“, „Bildniskunst und Porträtkultur“, „Selbstbilder in Briefen, Tagebüchern und autobiografischen Texten“, „Lebensbilder von Musikern“, „Neue Bilder von Körper und Welt“ und „Museumspädagogische Annäherung an die philosophische Menschenbild-Diskussion“ kommen 22 Experten verschiedenster Provenienz zu Wort. So werden Menschenbilder in Theorie und Praxis, in Kunst und Literatur, in Alltag, Politik und Gesellschaft nachgezeichnet und analysiert.

Vorangestellt sind zwei Texte von Lars-Thade Ulrichs zum veränderten Menschenbild der Aufklärung, wie es in Arbeiten vieler Philosophen deutlich wird: Leibniz, Johann Joachim Spalding, Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten (die beide in Halle wirkten), Moses Mendelssohn und Johann Georg Sulzer stehen exemplarisch für diesen Neuansatz, der die Betrachtung des Menschen und seiner Bestimmung zur „Leitfrage des Jahrhunderts“ erhob und dessen Bedeutung für die Frühaufklärung (zugleich für die Entwicklung der Kulturlandschaft Mitteldeutschland) nicht hoch genug geschätzt werden kann. Ging es doch letztlich darum, den Menschen als Natur- und Kulturwesen zu begreifen, dessen Sein und Handeln stets das Ideal der „Perfektibilität“ zugrunde gelegt werden soll.

Das Doppeldutzend der Autoren wird durch Johann Gottfried Schnabel komplettiert: Jedes Kapitel beginnt mit einem umfänglichen Zitat aus dem 1732 erschienenen „Zweyten Theil“ von dessen „Wunderliche[n] FATA einiger See-Fahrer“. (Ludwig Tieck war es, der dieses vierbändige, ursprünglich 2500 Druckseiten zählende Werk 1828, also fast 100 Jahre später, bearbeitete und kürzte, ehe er es unter dem Titel „Insel Felsenburg“ neu herausgab – und noch im 20. Jahrhundert wird das Buch [zum Beispiel von Arno Schmidt und Hans Mayer] jedem empfohlen, der sich über das deutsche Alltagsleben im ersten Drittel des 18. Jahrhundert informieren will.)

Hier alle Beiträge zu referieren, ja nur zu erwähnen, ist unmöglich, deshalb seien lediglich einige wenige Aspekte genannt: um Neugier zu wecken auf die Lektüre des ganzen Bands. Untersucht wird etwa, anhand literarischer Beispiele, die Macht der öffentlichen Meinung, ein Phänomen, das damals wie heute manchen an sich selbst (ver)zweifeln lässt.

Als Beleg dafür, dass und wie sich Menschliches in der Sprache spiegelt, wird Friedrich Gottlieb Klopstock zitiert: mit den Eislaufoden, seiner Theorie der „Wortfüße“ und den nie vollendeten „Grammatischen Gesprächen“.

Menschenbild = Bild des Menschen, das ist durchaus auch wörtlich zu nehmen: wenn man sich anschaut, wie der Mensch in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts abgebildet wird. Dass dabei Porträts eine herausragende Rolle spielen, versteht sich von selbst und wird, mit vielen Abbildungen versehen, in den Beiträgen über Christoph Friedrich Reinhold Lisiewsky, Gottfried Hempel und Johann Gottlob Nathusius dargestellt.

Schattenrisse und schriftliche Valediktionsarbeiten von Schülern der Landesschule Pforta (der berühmteste unter ihnen: Johann Gottlieb Fichte), Tagebücher der Fürstin Louise Henriette Wilhelmine von Anhalt-Dessau und des Fürsten Viktor Friedrich von Anhalt-Bernburg sowie die Soldatenbriefe des Dorfschulzen Jürgen/Georg Müller/Möller aus Winkelstedt in der Altmark lassen sehr persönliche Betrachtungen der je eigenen Lebensgeschichte und der Probleme der Zeit sichtbar werden.

Im Musikkapitel werden Johann Mattheson – mit seiner 1740 in Hamburg erschienenen „Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der Tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler ac. Leben, Wercke, Verdienste ac. erscheinen sollen“ –, Johann Friedrich Fasch (von der Leipziger Schul- und Studienzeit über die „musikalischen Wanderjahre“ bis zur Lebensstellung am Anhalt-Zerbster Hof) und der bis heute in vielem rätselhafte Wilhelm Friedemann Bach vorgestellt, ältester Sohn von Johann Sebastian Bach und der Familie legendäres „schwarzes Schaf“.

Zum Menschenbild gehört auch gehört nicht zuletzt seine physiologische Beschaffenheit und die Einstellung einer Epoche zu derselben. Folgerichtig ist der umfangreichste Beitrag der ursprünglich aus Berlin stammenden, doch vornehmlich in Halle wirkenden Ärztedynastie der Meckels, ihren medizinischen Leistungen und ihrer bis in die Gegenwart weltberühmten anatomischen Sammlung gewidmet.

Mit dem Bild des Menschen stets eng verknüpft ist das Bild der Welt. Dieser Aspekt zeigt sich im Porträt des Quedlinburgers Carl Ritter (ein enger Freund Alexander von Humboldts und Ordentliches Mitglied der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften), der sich als Geograf, Pädagoge und Philosoph einen Namen machte.

Das Menschenbild resp. die Menschenbilder wirkten – bewusst oder unbewusst, wie in der Gegenwart – im 18. Jahrhundert auf vielfältige Weise in das alltägliche Leben hinein: Sie beeinflussten das Verhältnis und Verhalten der Geschlechter, der Generationen, der Stände und der Religionen zueinander, sie schärften den Blick für das Eigene und das Fremde und für die bis heute immer neu zu stellende Frage, wie beides gleichermaßen bewahrt und miteinander vereinbart werden kann.

Am Ende steht „eine szenische Lesung, die belehrendes und Amüsantes aus dem leben und der Begegnung der Philosophen Voltaire und Christian Wolff in Halle“. Sie verband auf anschauliche Weise „Fiktives mit historisch belegbaren Fakten“ und wurde an einem Papiertheater des 19. Jahrhunderts aufgeführt – innerhalb des Beiprogramms der Ausstellung „Voltaire CANDIDE – Malerei, Grafik, Plastik, Objekt, Fotografie“ des halleschen Stadtmuseums im Themenjahr 2010.

Das Kompendium offeriert Fachleuten wie Laien interessanten Lesestoff; Literaturangaben und detaillierte Anmerkungen am Schluss der Beiträge regen zu weiterer Lektüre an; Orts- und Personenregister bieten sich als Wegweiser an.

Schließlich ist festzuhalten, dass die Menschenbilder selbstredend nicht ohne Einfluss auf die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Umgangs blieben – und somit dürfen wir schon jetzt gespannt sein auf Band 7 der Reihe. Er ist für den Herbst 2012 angekündigt und wird dem Thema „Geselligkeit im 18. Jahrhundert“ gewidmet sein.

Dziekan, Katrin/Pfeifer, Ingo/Pott, Ute (Hg.): Menschenbilder im 18. Jahrhundert. Spurensuche in Museen und Archiven Sachsen-Anhalts, Halle 2011, 287 Seiten, zahlreiche Abbildungen (farbig u. schwarzweiß), 24,00 Euro, ISBN 978-3-89812-819-3

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