Kein Feierabend nach Feierabend?

20.04.2015 von Annekatrin Lacroix in Forschung, Im Fokus, Wissenschaft
Immer online, immer ansprechbar – 77 Prozent aller Berufstätigen in Deutschland sind laut einer Studie des Verbands der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche außerhalb ihrer Arbeitszeit für ­Kollegen, Vorgesetzte oder Kunden per Handy und E-Mail erreichbar. Psychologen der Uni Halle sind dem Phänomen ständiger Erreichbarkeit auf den Grund gegangen.
Smartphones, Tablets und Laptops sind ständige Begleiter von Studierenden. Beim Studium finden sie aber nur teilweise Einsatz. ­(Grafik: unicom Werbe­agentur GmbH)
Smartphones, Tablets und Laptops sind ständige Begleiter von Studierenden. Beim Studium finden sie aber nur teilweise Einsatz. ­(Grafik: unicom Werbe­agentur GmbH)

Im Auftrag der Initiative Gesundheit und Arbeit, einem Zusammenschluss vier großer Krankenversicherungsverbänden, haben die Forscher um Prof. Dr. Renate Rau Mitarbeiter von zwei Unternehmen aus der Region Halle zu individuellen Arbeitsbelastungen befragt und im Unternehmen Arbeitsanalysen durchgeführt. „Ausgangspunkt unserer Untersuchung war die Erkenntnis, dass die ständige Erreichbarkeit von Beschäftigten außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit durch neue Technologien spürbar zugenommen hat. Die Ursachen liegen aber auch in einer umfangreichen Veränderung der Arbeitsverhältnisse“, sagt Renate Rau von der Abteilung Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie.

Immer schneller, immer flexibler, immer internationaler gestalten sich Arbeitsprozesse heute. Die Aufgaben des Einzelnen nehmen indes stetig zu. Mit diesen Veränderungen verbunden sind positive wie auch negative Auswirkungen. Um mögliche stressbedingte Gesundheitsfolgen, wie Erschöpfungszustände, Bluthochdruck, Schlafstörungen oder psychische Erkrankungen, zum Beispiel Depressionen frühzeitig einzudämmen, sollen am Ende der Studie unternehmensspezifische Konzepte zum gesunden Umgang mit Erreichbarkeit entwickelt werden.

Prof. Dr. Renate Rau
Prof. Dr. Renate Rau (Foto: Hellmuth Großmann)

Interesse an einem derartigen Konzept hatte zum Beispiel die GISA GmbH aus Halle. Für das Unternehmen, das komplexe IT-Lösungen insbesondere für Kunden aus der Energiewirtschaft entwickelt und diese betreut, kam die Studie genau zur richtigen Zeit. Nach Auswertung einer internen Befragung der 600 GISA-Mitarbeiter sah das Unternehmen Handlungsbedarf, berichtet Anja Kutzler, Bereichsleiterin Wissens- und Personalmanagement: „Knapp die Hälfte unserer Mitarbeiter gab in unserer Befragung an, dass berufliche Dinge sie in ihrem Privatleben belasten. Darauf wollen und müssen wir reagieren und haben die ständige Erreichbarkeit als eine mögliche Ursache identifiziert.“

Der hallesche Transfertag transHAL brachte Vertreter der GISA mit den Forschern der Uni Halle an einen Tisch. Im Frühjahr 2014 wurde die Forschungskooperation schließlich konkret: Die Psychologen interviewten 63 GISA-Mitarbeiter, analysierten ihre Arbeitsbelastungen im Unternehmen und begleiteten sie per elektronischem Tagebuch. Dabei wurden einen Tag und eine Nacht lang die Folgen von Belastungen mittels Blutdruckmessgeräten erfasst und das Befinden sowie das Stresslevel in verschiedenen Erreichbarkeitsphasen sowohl in der Arbeitszeit als auch in der Freizeit dokumentiert. Für viele Mitarbeiter war dieser Teil der Untersuchung der spannendste, denn alle Probanden konnten sich anhand der individuellen Auswertung ein Bild vom eigenen Gesundheitszustand machen.

Für manchen gab es überraschende Erkenntnisse. So war das Stresslevel häufig nicht bei der Arbeit, sondern auf dem Arbeitsweg am höchsten. Von den befragten Beschäftigten gab rund ein Drittel an, dass sie glauben, auch außerhalb der Arbeitszeit für Arbeitsangelegenheiten erreichbar sein zu müssen. Einem weiteren Drittel ist es wichtig, stets erreichbar zu sein.

Etwa die Hälfte der befragten Mitarbeiter aus allen Geschäftsbereichen des Unternehmens bewertete diese ständige Erreichbarkeit jedoch eher positiv. Sie gaben an, gerne zu arbeiten und es praktisch zu finden, immer erreichbar und informiert zu sein. Beruf und Familie seien durch mehr Flexibilität besser vereinbar. Die Ergebnisse der aktuellen Studie und weitere Untersuchungen in der Erholungsforschung machten Rau zufolge aber zunehmend auch negative Folgen sichtbar.

„Auch wenn viele die Non-Stop-Erreichbarkeit grundsätzlich als positiv einschätzen, zeigt sich, dass Arbeit immer mehr Einzug ins Privatleben hält. Je stärker das der Fall ist, desto mehr nehmen Beschäftigte Beeinträchtigungen des Privatlebens durch die Arbeit wahr. Der empfundene Stress oder das Nichtabschalten vom Job verschlechtert allgemein die Befindlichkeit“, sagt die Wissenschaftlerin, die seit 2011 an der Universität Halle forscht. Die Ergebnisse unterstreichen diese Einschätzung.

Probanden, die ständig erreichbar waren, fühlten sich weniger erholt und konnten beispielsweise abends schlechter einschlafen. Zudem war ihre Stimmung in der Freizeit schlechter, und das Gefühl sich positiv aktiviert zu fühlen geringer. „Die Auswirkungen auf das soziale Umfeld sind ebenfalls nicht unbedenklich. Mehr als die Hälfte der befragten Angehörigen fühlen sich im eigenen Freizeitverhalten durch die ständige Erreichbarkeit ihres Partners eingeschränkt“, erklärt die Psychologin. Insgesamt wünschten sich 58 Prozent der Beschäftigten und 84 Prozent ihrer Partner, eine vertragliche Regelung zu Erreichbarkeitszeiten.

Wie kann also ein sinnvoller Umgang mit den neuen Technologien aussehen? Nach Ansicht der Forscherin kann das Abstellen der Unternehmens-Server nach der Kernarbeitszeit nicht die alleinige Lösung sein. Vielmehr komme es im Unternehmen auf eine Kultur des wertschätzenden Umgangs – auch mit der Zeit der Beschäftigten – an. „Notwendig sind klare Absprachen zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten, welche Mitarbeiter wann und für welche Aufgaben erreichbar sein sollen.

Damit wird auch deutlich gemacht, von wem Erreichbarkeit nicht erwartet wird und es werden Konflikte vermieden. Die Mitarbeiter können besser abschalten und ihre familiäre Pflichten und Freizeitaktivitäten planen“, rät die Expertin für Arbeitspsychologie. Praktisch bedeute das in ihrem eigenen Team, dass die Mitarbeiter wissen, dass sie nach Feierabend oder am Wochenende die Mails von Renate Rau nicht bearbeiten müssen. Wenn es doch einmal eilen würde und etwas außerhalb der Arbeitszeiten fertiggestellt werden müsste, seien dazu im Vorfeld Vereinbarungen zu treffen.

transHAL: Wissenschaft und Wirtschaft vernetzen

Der Transfertag transHAL ist eine Veranstaltung der MLU und der Stadt Halle. Er soll Unternehmen den Zugang zu Uni-Forschern erleichtern und den Transfer von Wissen aus der Wissenschaft in die Wirtschaft fördern. Der nächste Termin findet im Oktober 2015 statt. Mehr dazu: www.transfer.uni-halle.de.

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